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Die Korrekturen kommen nicht von selbst

Ueli Mäder: Staatliche Hilfe Ja - aber nicht ohne Auflagen. RDB

Die Welt wird heute von einem neuen Feudalsystem beherrscht, das von Superreichen und multinationalen Unternehmen geprägt wird. Soziologieprofessor Ueli Mäder erklärt dessen Verbindungen zur aktuellen Finanzkrise.

swissinfo: Sind Ungleichheiten in der Einkommens- und Vermögensverteilung auch Ursachen für die jetzige Finanzkrise?

Ueli Mäder: Die extreme Konzentration des Reichtums führt von mittleren, zum Teil auch unteren Einkommen zu den oberen hin. Diese Feudalisierung beobachtet man weltweit, auch in der Schweiz.

Die Konzentration geht einher mit einem mangelnden Korrektiv durch die Gesellschaft – und die Politik. Das hat den Selbstlauf des Reichtums begünstigt.

swissinfo: Diese frappante Ungleichheit von Reichen und Armen ist ja nicht neu. Weshalb artikuliert sie sich gerade jetzt so lautstark?

U. M.: Die Erkenntnis ist nicht neu. Der ehemalige Daimler-Chef Edzard Reuter hat bereits im Jahr 2000 vor diesem Abheben gewarnt.

Auch liberale Soziologen wie Ralph Darendorff sagen, dass eine starke Wirtschaft auch ein staatliches Korrektiv braucht. Diese Warnungen wurden zu wenig ernst genommen. Und jetzt hat das Finanzsystem hyperventiliert.

swissinfo: Das feudalistische Staatssystem wurde durch die französische Revolution ja buchstäblich enthauptet. Müssen wir bei der Ablösung von diesem neuen Feudalismus auch mit sozialen Unruhen rechnen?

U.M.: Ich habe schon den Eindruck, dass sich die Wut erhöht hat. Auch die erwerbstätigen Armen fühlen sich ermutigt, sich vermehrt und lauter für die eigenen Interessen einzusetzen. Aber Wut und Empörung allein reichen nicht aus.

Man kann nur spekulieren, ob der Aufruhr in den Köpfen auch nachhaltige Konsequenzen haben wird. Denn die Bereitschaft, die Krise mit staatlichen Finanzspritzen abzufedern, ist gross – und wahrscheinlich auch notwendig. Und dies könnte zu einer Glättung der Wogen beitragen.

Was müsste denn politisch unternommen werden, um die gegenwärtige Krise besser zu meistern?

U. M.: Man redet oft von der Meritokratie der Marktwirtschaft, bei der die Leistungsfähigkeit zählt. Tatsächlich herrscht aber eine Tendenz zur Refeudalisierung. Denn das Kapital hat sich seine Vormachtstellung durch Selbstprivilegierung erhalten.

Aus diesem Grund braucht es mehr staatliche Korrektive, mehr politische und gesellschaftliche Verbindlichkeiten. Die Gesellschaft muss im Bereich der Wirtschaft und der Banken mehr zu sagen haben. Es kann nicht weiter angehen, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden.

Weiter sollte auf nationaler Ebene wieder eine Erbschaftssteuer eingeführt werden, denn die Refeudalisierung lebt unter anderem auch davon, dass der Reichtum immer in den eigenen Händen behalten wird. So kommen 80% der Manager aus den Kreisen der Begüterten.

Wir sehen das auch im Bildungswesen: Eine Person, die bei uns promoviert, hat viel grössere Chancen, in den Chefetagen zu landen. Und Promovierende kommen überwiegend aus höheren Einkommensschichten. So entsteht ein gefährlicher Selbstkreislauf der Privilegierten. Es ist höchste Zeit, dass das unterbunden wird.

Aber auch Kapitalien und Gewinne sollten progressiv besteuert werden und damit der breiten Bevölkerung mehr zugute kommen.

swissinfo: Das erinnert an den “New Deal” des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der ab 1933 mit Wirtschafts- und Sozialreformen bewirkt hat, dass die unteren Einkommensschichten mehr profitieren konnten. Nicht zuletzt deshalb wurde dann ja auch die Weltwirtschaftskrise gemeistert. Hat man daraus nichts gelernt?

U. M.: Ich denke schon, dass es jetzt eine stärkere Unterstützung für politisch legitimierte Kräfte gibt, welche die weltweiten Verbindlichkeiten auch im Rahmen der UNO herzustellen versuchen.

Besonders in Deutschland gibt es klare Aussagen für mehr Verbindlichkeit und neue Korrektive. Auch in unserem Land werden solche Stimmen wieder zunehmend laut. Aber wenn ich sehe, was sich in dieser Hinsicht international tut, sollte sich die Schweiz mehr anstrengen.

swissinfo: Sie sprechen den Umstand an, dass die Schweiz die schlechten Papiere der UBS übernommen hat und die Partizipation am Unternehmen unterdurchschnittlich gestaltet hat?

U. M.: Ja. Zwar finde ich es nicht ganz falsch, dass die Politik der Wirtschaft hier unter die Arme greift. Ich bin aber der Meinung, dass das mit Auflagen, mit klareren Verbindlichkeiten verbunden sein muss. Sonst befürchte ich, dass die Banken diese Unterstützung, diese Geschenke dankbar annehmen, aber am System des einseitigen Haushaltens dann wenig ändern werden.

swissinfo-Interview: Etienne Strebel

Geboren 1951.

Studium der Soziologie, Psychologie und Philosophie.

Grundausbildung in Psychotherapie.

Geschäftsleitung einer Entwicklungsorganisation.

Dozent an der Hochschule für Soziale Arbeit (FHNW).

Extraordinariat an der Universität Freiburg.

Seit 2005 ordentlicher Professor für Soziologie an der Universität Basel.

Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät.

Generalsekretär der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie.

Er war einige Jahre auch Abgeordneter der links-grünen Partei BastA im Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt.

Entwicklungssoziologie

Politische Soziologie

Sozialpolitik

Soziale Ungleichheit (Reichtum/Armut, Integration/Ausschluss)

Konflikt- und Kooperationsforschung (Gewalt, neue Kriege)

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