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Die Kunst der Anerkennung

Föderalismus ist nicht nur für die multikulturelle Schweiz eine Notwendigkeit.

Auch andere Länder versuchen, mit föderalistischen Lösungen ihrer Vielfalt gerecht zu werden.

Kanada, Belgien und Indien haben eines gemeinsam: Sie alle sind mit einer konfliktreichen Multikulturalität konfrontiert. Belgien versucht seit Jahrzehnten, den Konflikt zwischen Flamen und Wallonen zu entschärfen. In Kanada droht die Sezession des französisch-sprachigen Québec und in Indien hat sich der Kaschmir-Konflikt massiv verschärft.

Flexibles Indien

Doch gerade Indien hat es in der Vergangenheit geschafft, durch einen sehr flexiblen Föderalismus zahlreiche Konflikte seiner grossen kulturellen Vielfalt erfolgreich zu lösen. Mit der Gründung des Tamilen-Bundesstaates Tamil Nadu ist es, wie in der Schweiz mit der Gründung des Kantons Jura, gelungen, das Loyalitäts-Problem einer Volksgruppe abzuschwächen.

Um Sprach-Minderheiten mehr Macht und Einfluss zu geben, wurden zudem mehrfach die Grenzen der Gliedstaaten angepasst. Damit konnte die Sprachenfrage zwar relativ weit entschärft werden, nicht aber die Religionsfrage, denn diese gilt nur eingeschränkt als Kriterium für Grenzziehung. Die dezentralisierte Lösung im Bereich der Sprachen war auch deshalb möglich, weil Indien mit der Kolonialsprache Englisch über alle regionalen Unterschiede hinweg über eine gemeinsame Sprache verfügt.

Dezentralisiertes Belgien

Belgien versucht die Konflikte seiner sprachlichen und kulturellen Vielfalt durch zusätzliche Dezentralisierung und Föderalisierung zu lösen. Zusätzlich zu den drei Sprachgemeinschaften Französisch, Flämisch und Deutsch existieren noch drei Regionen (Wallonien, Flandern und Brüssel). Für Konfliktstoff ist gesorgt: Denn diese komplexe Struktur führt vor allem in Brüssel und in den Grenzgemeinden zu zahlreichen Überschneidungen.

Bipolares Kanada

In Kanada stehen die sprachlichen Unterschiede im Vordergrund. Die mehrheitlich französischsprachige Provinz Québec steht einer englischsprachigen Mehrheit gegenüber. Die Verfassung gewährt Québec das Recht, gewisse Gesetze zu ignorieren.

Der bipolare Föderalismus Kanadas ist äusserst instabil und immer wieder kommt es zu Sezessions-Referenden. Eine Sezession wäre zwar laut Verfassung möglich, doch ist sie an ein kompliziertes Verfahren gebunden.

Einzig Äthiopien gewährt seinen Gliedstaaten ein einseitiges Sezessions-Recht. Eritrea nahm 1993 diese Option wahr, nachdem eine überwältigende Mehrheit der Eritreer für die Unabhängigkeit des Landes gestimmt hatte.

Ebenen des Föderalismus

Der Föderalismus bietet zahlreiche Möglichkeiten, um der Multikulturalität Rechnung zu tragen. Alle föderalistischen Staaten kennen Zweikammer-Parlamente, in denen einerseits die Gesamtbevölkerung und andererseits die Gliedstaaten, Gemeinschaften oder (wie in Belgien) die Sprachgruppen repräsentiert werden.

Die verschiedenen Gruppen können aber auch auf anderen Ebenen als der Legislative an der Macht beteiligt werden. Verbreitet sind auch föderalistisch gestaltete Exekutiven: Der Schweizer Bundesrat, in dem seit 1959 drei Landessprachen und die vier grossen Parteien vertreten sind. Die belgische Regierung, die zu gleichen Teilen aus Wallonen und Flamen zusammengesetzt ist. Bosnien-Herzegowina mit einem dreiköpfigen multiethnischen Präsidium. Tansania/Sansibar mit einer rotierenden Präsidentschaft, wo der Präsident und Vizepräsident abwechselnd vom Hauptland bzw. von Sansibar stammen.

Die verschiedenen Gruppen eines Landes können auch auf der Ebene von Gerichten abgebildet werden oder sie können sich durch institutionalisierte Prozesse Geltung verschaffen. Belgien kennt ein so genanntes “alarm-bell procedure”: Wenn im Parlament eine Minderheit der Auffassung ist, dass ein Gesetz die Interessen einer Sprachgemeinschaft verletzt, muss die Regierung einen Kompromiss ausarbeiten.

Dieser Prozess ist vergleichbar mit dem Vernehmlassungs-Verfahren in der Schweiz, bei dem bereits im Vorfeld ein Kompromiss zwischen den verschiedenen Interessengruppen ausgehandelt wird.

Gescheiterte Staaten

Nicht alle Föderationen waren indes erfolgreich: Die Tschechoslowakei brach – wie die meisten Staaten mit nur zwei Gliedstaaten – auseinander. In Jugoslawien fehlte die Repräsentation des Gesamtstaates, und jede Entscheidung war letztlich eine Entscheidung zwischen ethnischen Gruppen.

“Das Beispiel Jugoslawien zeigt, dass es neben der Repräsentation von ethnischen Gruppen unbedingt auch eine Repräsentation des Gesamtstaates geben muss, weil sonst die Ethnisierung der Politik droht”, betonte Nicole Töpperwien vom Freiburger Föderalismus-Institut gegenüber swissinfo. Entscheidend sei stets die Gesamtbalance der Institutionen.

Hansjörg Bolliger

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