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Die Schweiz im Nobel-Boom

Rolf Zinkernagel erhielt 1996 den Nobelpreis für Medizin. Keystone

In kein anderes Land wurde in der Vergangenheit der Nobelpreis häufiger vergeben als in die Schweiz - gemessen an der Bevölkerungszahl. Bisher durften seit 1901 24 Schweizer Bürger die höchste wissenschaftliche Auszeichnung entgegennehmen. Zufall?

Das Phänomen liefert oft und gerne den Stoff für 1. August- Reden, die Osec, die im Auftrag des Bundes die schweizerische Aussenwirtschaft fördert, wirbt damit für den Standort Schweiz: Kein anderes Land auf der Welt zählt pro Kopf der Bevölkerung derart viele Nobelpreisträger wie die Schweiz.

Eine Statistik der Lausanner Kaderschmiede IMD etwa ordnet der Schweiz 1,111 Nobelpreise pro Million Einwohner zu. Gezählt wurden die Auszeichnungen in Physik, Chemie, Medizin und Wirtschaft, die zwischen 1950 bis 2001 vergeben wurden.

Dem gegenüber beträgt dieser “Nobel-Faktor” für Grossbritannien bloss 0,840, für die USA 0,713, für Deutschland noch 0,341, und Frankreich bringt es lediglich auf 0,187 Nobelpreise pro Million Einwohner.

Wann ist es ein “Schweizer” Nobelpreis?

Aber das ist bloss eine Statistik unter vielen. Denn der Begriff “Schweizer Nobelpreisträger” ist sehr unscharf. Ist ein Laureat oder eine Preisträgerin “schweizerisch”, wenn er oder sie in der Schweiz lebt und forscht oder geboren wurde. Oder zählt allein das Bürgerrecht?

Wie steht es mit den Preisträgern, die zwar den Schweizer Pass besitzen, jedoch nie hier gelebt und gewirkt haben? Und dann gab es – vor allem in kriegerischen Zeiten – kluge Köpfe, die nicht ganz freiwillig in die Schweiz umsiedelten und hier das Bürgerrecht erhielten – oder auch nicht. Es gibt also viele Methoden, “Schweizer” Nobelpreisträger zu zählen.

24 waschechte und 3 Grenzfälle

Der Wissenschafts-Historiker Roland Müller widmet sich der Frage auf seiner Website. Müller lässt in erster Linie als “Schweizer” Nobelpreisträger die 24 Laureaten gelten, die zur Zeit der Preisverleihung tatsächlich im Besitz des Schweizer Bürgerrechts waren.

Als Grenzfall gilt etwa der Physiker Paul Dirac, der zwar zeitlebens in England und den USA zu Hause war, jedoch das Schweizer Bürgerrecht bei der Geburt von seinem Vater geerbt hatte. Oder Wolfgang Pauli, ebenfalls Physiker, der erst als Bürger von Zollikon aufgenommen wurde, nachdem er 1945 den Nobelpreis erhalten hatte.

Und auch der Physik-Nobelpreisträger des Jahres 1988 ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen: Jack Steinberger. Er wirkte ab 1968 am Kernforschungszentrum CERN in Genf und wurde im Jahr 2000 eingebürgert. Kofi Annan schliesslich, der Friedens-Nobelpreisträger von 2001, erhielt im selben Jahr auch noch das Genfer Ehrenbürgerrecht und ist seither unter anderem auch “Schweizer”.

Neun weitere Friedensnobelpreise gingen zwischen 1910 und 1981 übrigens an Organisationen, die in der Schweiz ansässig sind.

Über 100 mit Schweiz verbunden

Zudem haben 18 weitere später ausgezeichnete ausländische Forscher in der Schweiz studiert oder hier an ETH und den Universitäten Zürich, Genf und Basel als Professoren gewirkt.

Und 47 Laureaten hatten in ihrer Jugend einige Jahre an einem der zahlreichen Forschungsinstitute zwischen Genf, Bern, Rüschlikon und Basel ihre Sporen abverdient.

Insgesamt standen also über 100 Nobelpreis-Vergaben in enger Verbindung mit der Schweiz. Eine beachtliche Zahl – ist sie zufällig zustande gekommen? Ja, sagt der Aargauer Werner Arber, der in Genf und Basel wirkte und den hohen Preis 1978 für die Entdeckung der so genannten Restriktionsenzyme erhielt, die sich hinterher als wichtigstes Werkzeug der Gen- und Biotechniker erwiesen. Die Anhäufung der Nobelpreise in der Schweiz sei “wahrscheinlich ein statischer Ausrutscher”, meint er gegenüber swissinfo.

“Ein guter Nährboden”

Der Winterthurer Chemie-Nobelpreisträger Richard Ernst, der für seinen Beitrag zur Entwicklung der Magnetresonanzspektroskopie (MRI) in der Medizin 1991 ausgezeichnet wurde, ist sich da nicht so sicher. Er sieht zwei Gründe für den Nobel-Boom in der Schweiz. Erstens die Tatsache, dass sich die Schweiz aus den beiden Weltkriegen heraushalten konnte und daher viele gescheite Köpfe aus ganz Europa anlockte.

Zweitens “waren der Nährboden und das Umfeld in den vergangenen 50 Jahren überaus günstig. Das lässt sich nicht kurzfristig schaffen, das sind die Früchte einer langen Entwicklung”, sagt Ernst.

Schweizer nicht intelligenter

Die Nobelpreis-Häufung habe nichts damit zu tun, dass Schweizer besonders intelligent seien. “Andere Länder wie etwa Österreich haben vom menschlichen Potential her gesehen ähnlich gute Voraussetzungen.”

Aber Österreich leide unter einem akuten “brain drain”, kreative Köpfe seien dort ein Exportartikel. “Das ist in der Schweiz weit weniger der Fall. Im Gegenteil: Die auch in finanzieller Hinsicht guten Bedingungen ziehen ausgezeichnete Forscher aus der ganzen Welt an, neuerdings auch aus den USA.”

Zuversichtlich für die Zukunft

Daher ist Richard Ernst zuversichtlich, dass die Schweiz sich ihre Spitzenposition auf der Nobelpreis-Rangliste auch in Zukunft wird bewahren können. “Die Attraktivität für exzellente Leute ist immer noch gross, und ich bin zuversichtlich, dass dies auch in Zukunft so bleiben wird.”

Bei alledem räumt der Preisträger von 1991 aber auch ein, dass der Nobelpreis nicht die einzige Marke ist für ausgezeichnete Forschungsarbeit. “Viele Wissenschaftler gehen leer aus, obwohl sie die höchste Auszeichnung eigentlich verdient hätten. Da spielt oft auch Politik und ziemlich viel Glück eine Rolle.” Ein Trost für alle Forscherinnen und Forscher, die es nicht – oder noch nicht – geschafft haben.

Ulrich Goetz, swissinfo.ch

swissinfo.ch präsentiert auch nächsten Montag wieder einen Rekord. Diesmal geht es um die komplizierteste Uhr der Welt. Natürlich hat sie ein Schweizer erbaut!

Das Special “Die Schweiz der Rekorde” mit zahlreichen multimedialen Angeboten geht am 3.8. online.

1901 Jean Henri Dunant: Friedenspreis
1902 Elie Ducommun und Charles Albert Gobat: Friedenspreis
1909 Emil Theodor Kocher: Medizin
1913 Alfred Werner (geboren in Mülhausen, ab 1894 Bürger von Zürich): Chemie
1919 Carl Friedrich Georg Spitteler: Literatur
1920 Charles-Edouard Guillaume (lebte ab 1883 in Frankreich): Physik
1921 Albert Einstein (geboren in Ulm; von 1901-1955 Bürger der Stadt Zürich): Physik
1937 Paul Karrer: Chemie
1939 Leopold Ruzicka (geboren in Vukovar, dem ehemaligen Österreich-Ungarn, ab 1917 Bürger von Zürich): Chemie
1946 Hermann Hesse (geboren in Calw, 1883-90 Basler Bürgerrecht, ab 1923 Bürger von Bern): Literatur
1948 Paul Hermann Müller: Medizin
1949 Walter Rudolf Hess: Medizin
1950 Tadeus Reichstein (geboren in Wloclawek, 1916 Bürger von Zürich): Medizin
1951 Max Theiler (ab 1922 in den USA): Medizin
1952 Felix Bloch (ab 1934 in den USA): Physik
1957 Daniel Bovet (ab 1947 in Italien): Medizin
1975 Vladimir Prelog (geboren in Sarajewo; ab 1959 Bürger von Zürich): Chemie
1978 Werner Arber: Medizin
1986 Heinrich Rohrer: Physik
1987 Karl Alexander Müller: Physik
1991 Richard Robert Ernst: Chemie
1992 Edmond Henri Fischer (geboren in Schanghai, ab 1947 Bürger von Genf): Medizin
1996 Rolf Zinkernagel: Medizin
2002 Kurt Wüthrich: Chemie
(Quelle: “muellerscience”)

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