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Die Schweiz in Mailands Geschichte

Ein Schweizer Wahrzeichen inmitten Mailands. ti-press.ch

Der Schweizer Verein von Mailand vereinigt auch heute noch Hunderte von Landsleuten, die in der lombardischen Metropole leben und arbeiten. Über Jahrhunderte hinweg haben Schweizer die Entwicklung der ganzen Region mitgestaltet.

“Italien hat sich zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert zu einem Industriestaat enwickelt, auch dank einem wesentlichen Beitrag von Schweizern, die Betriebe in Mailand unterhielten, dem avantgardistischen Zentrum”, erklärt die Historikerin Renata Broggini in ihrem Artikel “Die Schweizer in Mailand” (Reihe Kunst und Geschichte, Nr. 22, 2004).

“Sie wanderte aus wirtschaftlichen Gründen auf die benachbarte Halbinsel aus, wo sie unterschiedlichen Gewerben nachgingen: aus den Grenzregionen kamen hauptsächlich Architekten, Maurer, Gipser, Handwerker, aus den Kantonen der Innerschweiz jedoch Söldner, die den verschiedenen Mächten Italiens dienten.”

Es war jedoch kein Zufall, dass 1848 der Grossteil der Schweizer in Italien – 14’000 von insgesamt rund 20’000 – aus Soldaten bestand. Die übrigen waren vorallem Handwerker aus dem Tessin, die sich in der Lombardei und im Veneto niedergelassen hatten. 1853 wurden sie jedoch von Feldmarschall Radetzky – Statthalter von Mailand – ausgewiesen – dies als Repressalie gegen die Eidgenossenschaft nach dem gescheiterten Aufstand gegen Österreich, der von italienischen Republikanern organisiert worden war, die im Tessin lebten.

Wichtige Präsenz

“Die Wende in der helvetischen Auswanderung, die sich auf die italienische Wirtschaft auswirkte, fand jedoch in der ersten Zeit der Industrialisierung statt”, erklärt Broggini. In der Tat “wurden schon vor der Vereinigung Italiens (1861) die alten Kategorien der Auswanderer (Soldaten und Handwerker) durch neue abgelöst, durch Bankiers, Industrielle und Kaufleute.”

Infolge dieser Entwicklung richtete die Eidgenossenschaft bereits 1798 in Mailand ein Konsulat ein, es war eine der ersten Schweizer Vertretungen im Ausland.  

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelten sich das von Österreich regierte Königreich Lombardo-Venetien und die italienische Lombardei zu einer zunehmend interessanten Region in Sachen Wirtschaft.

Die Zusammenstellung der Schweizer Kolonie war breitgefächert: “Um 1848

beherberte die lombardische Hauptstadt deutsch-und französisch-sprachige Schweizer, die insbesondere in der Textil- oder Bankbranche tätig waren. Zahlreicher waren die Bündner und vor allem die Tessiner, die noch in den typischen Handwerker-Berufen arbeiteten”, sagt Broggini.

Die Letzteren “verschmolzen problemlos, auch in Bezug auf Sprache und Traditionen, mit der lokalen Bevölkerung. Die anderen, die nördlich des Gotthards stammten, die mit reichen Deutschen aus Frankfurt Geschäfte machten und protestantischer Konfession waren, blieben unter sich.”

Die Kolonie zusammenhalten

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts importierten die Schweizer Unternehmer in Mailand den Metallbau, gründeten Verlagshäuser (Hoepli) und waren in der Pharma- und Versicherungsbranche aktiv. Die Zürich Versicherung zum Beispiel spezialisierte sich auf die Brandversicherung. Ein weiterer Bereich war die Hotellerie: Das Grand Hôtel de la Ville  wurde von Giovanni Baer gebaut.

Um diese wichtige Kolonie zu einen, wurde 1883 der Schweizer Verein gegründet.

“Der Sitz an der Via Silvio Pellico mit seiner Bibliothek, dem Lesesaal, den Sprachkursen für Italienisch, Französisch, Englisch – die ersten 172 Vereinsmitglieder waren fast alle deutschsprachig – wollte eine professionelle und soziale Qualifikation vermitteln. Ebenso wollte der Verein typisch schweizerische Aktivitäten ankurbeln wie den Chorgesang, Gymnastik, Schiessen auf Scheiben, den Kult der ländlichen Tradition”, erklärt Renata Broggini.

Der Schweizer Wohltätigkeits-Verein, der 1875 gegründet wurde, unterstützte Landsleute, die weniger bemittelt waren. 1887 etwa wurde ärmeren Einwanderern 600 Gutscheine für Kost und Unterkunft abgegeben.

Die Zeit der Weltkriege

Nach dem Ersten Weltkrieg und den damit verbundenen Schwierigkeiten – der Wohltätgkeits-Verein half bei der Repatriierung von Schweizern, die mittel- und arbeitslos geworden waren – wurden die unternehmerischen und verbindenden Tätigkeiten der Schweizer Kolonie wieder aufgenommen.

Als die politische Situation erneut prekär wurde nach dem Anschluss Österreichs ans Dritte Reich, entstand 1938 eine neue Einheit, die es noch heute gibt: das Schweizer Verbindungs-Komitee in Italien. Dabei handelt es sich, so Broggini, “um ein Gremium für die öffentliche Gesundheit, mit dem Ziel, die Landsleute im Auge zu behalten, die für Hitler und Mussolini waren”.

Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gingen die Aktivitäten der Kolonie natürlich zurück: Viele Schweizer kehrten nach Hause zurück, um Militärdienst zu leisten, und die Bombardierungen zerstörten auch mehrere Schweizer Einrichtungen. Das Konsulat wurde von Mailand nach Como verlegt, eine Stadt, die nie bombardiert wurde und dazu nahe der Schweizer Grenze liegt.

Schweizer Wolkenkratzer

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen die italienisch-schweizerischen Beziehungen rasch zu, wie der neue Sitz des Centro Svizzero zeigt. Die Stadt Mailand hatte dem Schweizer Verein den Kauf eines Grundstücks auf der Piazza Cavour vorgeschlagen, und zwar zu Bedingungen, die den Bau eines avantgardistischen Baus zuliess, was Technologie und Architektur betraf.

Der majestätische Turm wurde 1952 eingeweiht, auch dank einiger Kompensationszahlungen von Kriegsschäden, über welche die Schweiz in Italien verfügt. Der Bau – der erste Wolkenkratzer Mailands – steht noch heute und beherbergt unter anderm das Schweizer Generalkonsulat. 

Und was ist aus dem Schweizer Verein geworden? Heute, nach einem heftigen Kampf im Jahr 2007 gegen den geplanten Verkauf des Centro Svizzero, “handelt es sich hauptsächlich um einen kulturellen Zirkel, der seinen 650 Mitgliedern interessante Aktivitäten vorschlägt”, antwortet Präsident Jean-Pierre Hardegger, der seit 1962 in Mailand lebt.

So zeigte der Verein zwischen Oktober und November 2011 unter anderem einen Dokumentarfilm über den Gotthard, es wurde eine Konferenz zum 150-jährigen Bestehens Italiens abgehalten und es fanden ein geselliges Nachtessen und sogar eine Modeschau statt. 

Im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es keine präzisen Erhebungen zur Zahl der Schweizer, die in Italien lebten.

Die Auslandschweizer waren damals noch nicht dazu verpflichtet, sich bei einer diplomatischen Vertretung ihres Heimatlandes zu melden.
 
Gemäss Schätzungen der Schweizer Verbindung in Italien lebten im Jahr 1898 rund 15’000 Schweizer in Italien.
 
Gemäss einer italienischen Volkszählung aus dem Jahr 1901 lebten 10’744 Schweizer in Italien. Dies war quantitativ die zweitbedeutendste Ausländergemeinschaft nach den Österreichern (10’922) und vor den Deutschen (10’715).

Die wichtigsten Schweizer Kolonien in Italien befanden sich damals in Mailand (5000), Turin (2200), Neapel (1200), Livorno (1200) und Rom (700).
 
Im Jahr 2009 lebten in Italien 48’638 Schweizerinnen und Schweizer (38‘672 mit doppelter Staatsbürgerschaft).

In den  letzten 10 Jahren stieg die Zahl konstant an: 2000 waren es 41’140 Personen.
 
Die Gemeinschaft der Schweizer in Italien steht weltweit an vierter Stelle. Die meisten Auslandschweizer leben in Frankreich (179’106), Deutschland (76’565) und den USA (74’966). 

(Übertragung aus dem Italienischen: Gaby Ochsenbein)

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