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Die solide Seite der Schweiz

Georg Kreis: "Ich weiss gar nicht, wie man noch eine Steigerung vornehmen kann in der Verlogenheit und in der Demagogie." Keystone

Die Diskussion um Grenzkontrollen und nicht die Asylfrage habe die Abstimmung vom Wochenende entschieden, sagt der Europa-Experte Georg Kreis.

Im Gespräch mit swissinfo bezweifelt der Leiter des Europainstituts der Uni Basel, dass die Gegner einer europapolitischen Öffnung in der Agitation noch zulegen können.

swissinfo: Wie beurteilen Sie das Abstimmungsresultat?

Georg Kreis: Ich bin sehr zufrieden mit dem Resultat, das etwas deutlicher ausgefallen ist, als ich erwartet habe. Die Schweiz hat sich von ihrer soliden Seite gezeigt.

Dabei spielten sicher die wirtschaftlichen Aspekte und die Interessen der Tourismusbranche eine Rolle zugunsten des Schengen-Abkommens.

Offenbar hat – und das freut mich lediglich bedingt – das Argument auch eine Rolle gespielt, wonach wir uns mit Schengen gegen das “kriminelle Europa” noch besser wehren können.

Die Gegner und die Befürworter haben sich ja mit ihren Handschellen-Inseraten und –Plakaten gegenseitig zu übertreffen versucht. Das hat der Schengen-Vorlage sicherlich geholfen, nährt aber leider mittelfristig das Feindbild des “gefährlichen Europas”.

swissinfo: Die grossen Tourismusregionen in der Deutschschweiz, aber auch im Tessin, haben die Abkommen abgelehnt. Dies trotz der wirtschaftlichen Pro-Argumente der Tourismusverbände. Wie erklären Sie sich das?

G.K.: Wir haben ja grosso modo wieder eine ähnliche Struktur wie beim Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum im Dezember 1992. Ländliche Gebiete, soweit es solche in der Schweiz überhaupt noch gibt, oder jedenfalls Gebiet mit einer ländlichen Mentalität, haben sich ablehnend verhalten. Urbane Zentren haben eher zugestimmt.

Wir haben keine einfache territoriale Situation in unseren Köpfen. Das heisst: Auch für Städter, die nicht primär vom Tourismus leben, kann der Gedanke “Tourismus” ein Argument für ein Ja gewesen sein.

Was das Nein der Tourismusregionen im Tessin und in der Deutschschweiz betrifft, kann ich nur sagen: Es ist nun wirklich nicht zum ersten Mal so, dass hier die irrationalen Motive sogar gegen die eigenen Interessen Oberhand nehmen. Das ist nun mal so, und ich will das nicht weiter kommentieren.

Die Romandie hingegen ist – nach gewissen Einbrüchen – wieder zu ihrer alten Form der Offenheit zurück gekehrt.

swissinfo: Schengen kam im Paket mit dem Asylabkommen von Dublin zu Abstimmung. Wieweit hat die Tatsache eine Rolle gespielt, dass die Zahl der Asylgesuche in der Schweiz seit Monaten stark rückläufig ist?

G.K.: Dublin, und damit die Asylfrage, standen im Abstimmungskampf stark im Hintergrund. Die Diskussionen drehten sich vor allem um die Frage der Grenzen und der Kontrollen an den Grenzen.

Wenn wir im Asylbereich eine dramatischere Situation gehabt hätten, dann wäre auch das Abkommen von Dublin in einer negativen Weise stärker thematisiert worden.

Aber ich meine, dass der Match ganz klar um Schengen gespielt wurde und nicht um Dublin.

swissinfo: Das bürgerliche Lager ist gespalten. Die Wirtschaft befürwortete Schengen/Dublin, aber auch die Personenfreizügigkeit, über die im September abgestimmt wird. Das nationalkonservative Lager ist dagegen. Wird sich die Situation noch akzentuieren?

G.K.: Ich rechne sehr damit. Es hat sich auch an diesem Wochenende wieder gezeigt, dass das Bild komplexer ist, als viele denken. Man kann nicht mit dem Links-Rechts-Schema operieren.

Entscheidend ist, dass innerhalb der Rechten die reformbereite Seite stärker ist, dann gelingen derartige Projekte. Persönlich bin ich wesentlich zuversichtlicher im Bezug auf den September, als viele Leute in meiner Umgebung und die Medien.

Ich meine aber nicht, dass diese Abstimmung bereits gewonnen sei, doch die Chance, sie zu gewinnen halte ich für sehr gut.

swissinfo: Der Abstimmungskampf zu Schengen/Dublin wurde ja stark auf der emotionellen, irrationalen Ebene geführt. Erwarten Sie in dieser Hinsicht eine Steigerung?

G.K.: Das ist möglich, aber ich denke, dass die Seite der Gegner in der Tat gewisse Abnutzungserscheinungen zeigt. Und das selbst im Übertreiben, im Überziehen.

Ich weiss gar nicht, wie man in diesem Bereich noch zulegen kann, wie man noch eine Steigerung vornehmen kann in der Verlogenheit, in der Agitation und in der Demagogie.

swissinfo-Interview, Andreas Keiser

Mit 54,6% haben die Stimmenden die Abkommen von Schengen und Dublin angenommen.

Am höchsten war die Zustimmung mit 71% im Kanton Neuenburg. Den grössten Nein-Stimmen-Anteil verzeichnete der Halb-Kanton Appenzell Innerrhoden mit 31,5%.

Georg Kreis ist Ordinarius für Neuere Allgemeine Geschichte und Schweizer-Geschichte an der Universität Basel.

Seit 1993 ist er Leiter des damals geschaffenen, interdisziplinären Europainstituts.

Seit 1995 ist der Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus.

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