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Die vielen Gesichter von Annemarie Schwarzenbach

Annemarie Schwarzenbach und ihr Mercedes Mannheim in Berlin im Jahr 1932. Marianne Breslauer

Die Schweiz begeht in diesem Jahr den 100. Geburtstag der aussergewöhnlichen Schriftstellerin und Fotografin Annermarie Schwarzenbach, einer modernen Nomadin, die sich schwer tat mit dem Leben und nur 34 Jahre alt wurde.

Annemarie Schwarzenbach wurde vor hundert Jahren in Zürich geboren, am 23. Mai 1908. Die Luft war sehr heiss, das Quecksilber stieg auf 28 Grad. Am Abend jedoch sank die Temperatur rapid, und es begann zu schneien. Am nächsten Tag lag eine dünne Schneeschicht über der Stadt an der Limmat.

“So beginnt das Leben von Annermarie Schwarzenbach, und ihr Leben ist voller Ereignisse dieser Art”, erzählt Alexis Schwarzenbach. Der Historiker und Grossneffe der Künstlerin war aktiv an den Vorbereitungen der 100-Jahr-Gedenkfeier für die Zürcher Schriftstellerin beteiligt.

Er war Kurator der Ausstellung “Annemarie Schwarzenbach – Eine Frau zu sehen”, eine von mehreren Veranstaltungen in diesem Jubiläumsjahr. Für ihn liest sich das Leben seiner Grosstante wie ein “echter Roman”.

Schon Fotografien von Annermarie Schwarzenbach zeigen deutlich, dass es sich bei dieser Frau um eine Persönlichkeit ausserhalb jeglicher Normen handelte. Der Blick in ihrem ernsten, verschlossenen Gesicht von androgyner Schönheit sei “wie von unsichtbarem Leid gezeichnet”, schreibt die Dichterin Catherine Pozzi.

Erdrückende Atmosphäre

Schriftstellerin, Journalistin, Dichterin, Briefschreiberin und Fotografin – Annemarie Schwarzenbach ist einem Meteor gleich durch ihre Epoche gerast.

“Annemarie Schwarzenbach – und sie selber wusste das – hatte nicht nur ein einziges Gesicht. Ihre Persönlichkeit hatte unzählige Seiten”, unterstreicht Alexis Schwarzenbach.

Geboren in einer wohlhabenden Industriellen-Familie in Zürich, brach sie schon früh mit ihren Angehörigen. Sie hielt den Konservativismus ihres Elternhauses und dessen Nähe zum Nazitum nicht aus.

Ihre politischen Ansichten, aber auch ihre nonkonformistische Haltung, ihre offen gelebte Homosexualität, die auch in ihren Berichten und autobiografischen Schriften zum Ausdruck kommt, der Konsum von Morphium – all dies entfernte sie von ihrem ursprünglichen Milieu.

“Ihr Privatleben war dominiert vom Konflikt zwischen ihrer Familie und der Familie Mann (Erika und Klaus Mann). Der Konflikt war emotional, aber auch politisch, denn sie selber stand links, ihre Familie sympathisierte mit den Nazis”, präzisisiert Alexis Schwarzenbach.

Aber auch die Suche nach der grossen Liebe habe ihr Leben geprägt, ebenso wie die Abhängigkeit von Drogen, die laut ihrem Grossneffen für sie ein sehr grosses Problem war.

Briefwechsel

Der umfangreiche Briefwechsel spricht für sich: Auch wenn ihre Mutter einen Grossteil der Briefe an Annemarie Schwarzenbach kurz nach deren Tod vernichtete, sind jene Briefe an ihre Eltern und Freunde, insbesondere an Erika und Klaus Mann, in Privatarchiven wieder zum Vorschein gekommen.

Annemarie Schwarzenbach war immer wieder drogenabhängig und mehrmals zum Drogenentzug in Behandlung. Nach dem schweren Fahrradunfall im Jahr 1942 hielt sie sich in einer psychiatrischen Klinik auf.

Die Ärzte, die bei ihr fälschlicherweise Schizophrenie diagnostizierten, behandelten sie mit Elektroschock und Insulintherapien, was ihren Organismus schwächte und ihr irreversible mentale Schäden zufügte.

Unveröffentlichte Erzählung

Annemarie Schwarzenbach war häufig auf Reisen, fast immer im Auto in Begleitung von Freundinnen, die gleichzeitig ihre Liebhaberinnen waren. Sie schrieb Reiseberichte und Erzählungen, darunter eine bisher nicht veröffentlichte.

“‘Eine Frau zu sehen’ ist der Titel einer Erzählung, die ich im Schwarzenbach-Nachlass in Bern gefunden habe”, erklärt Alexis Schwarzenbach. Es handelt sich um eine völlig unerwartete Entdeckung, denn der Nachlass befand sich seit fast 30 Jahren im Schweizerischen Literaturarchiv.

Zu ihrem 100. Geburtstag wurde die Erzählung nun veröffentlicht. Darin bekennt sich Annemarie Schwarzenbach im Alter von erst 21 Jahren offen zu ihrer Liebe zu Frauen. Die Geschichte spielt im Engadin, dort, wo die Schriftstellerin, die sich nirgends so richtig zu Hause fühlte, am liebsten war.

swissinfo, Paola Beltrame, Zürich
(Übersetzung und Adaption: Gaby Ochsenbein)

Am 23. Mai 2008 wäre Annemarie Schwarzenbach 100 Jahre alt geworden.

Die Enkelin von General Ulrich Wille ist in Zürich geboren und in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen. Sie studiert Literatur in Zürich und Paris.

Mit 22 Jahren lernt sie Erika und Klaus Mann kennen, die Kinder des Schriftstellers Thomas Mann. Sie teilt deren antifaschistische Haltung und distanziert sich von der eigenen Familie, die Hitlers wahre Natur lange Zeit verkennt.

1931 zieht sie nach Berlin, um sich ganz der Literatur zu widmen. Sie publiziert ihren ersten Roman “Freunde um Bernhard”.

Der Werdegang von Annemarie Schwarzenbach ist zumindest für die damalige Zeit sehr untypisch: Sie ist morphiumsüchtig, lesbisch und eine leidenschaftliche Reisende. Sie reist durch verschiedene Länder Europas, nach Persien (heute Iran) – wo sie 1935 den französischen Diplomaten Claude Clarac heiratet – nach Russland, in die USA. Im gleichen Jahr begeht sie den ersten Selbsttötungsversuch.

1939/40 reist sie mit der Walliser Schriftstellerin Ella Maillart nach Afghanistan.

Nach einer Reise in den Belgisch Kongo (heute Demokratische Republik Kongo) kehrt sie 1942 in die Schweiz zurück. Im gleichen Jahr stirbt sie nach einem Fahrradunfall in Sils (Graubünden).

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