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Global herausgeforderte Schweizer Kunstmuseen

Swissinfo Redaktion

Der Satz "Think global, act local" gehört zu den "ausgeleiertsten" Mottos der Globalisierung. Und doch passt diese Aufforderung besser als jede andere zur Situation der Schweizer Kunstmuseen. Denn Museen sind per definitionem lokal, sie haben ein lokales Publikum, ihre Sammlung baut zumeist auf lokalem bzw. nationalem Kunstschaffen auf, für das sie umgekehrt einen fruchtbaren Nährboden bilden. 

Geht man davon aus, dass es zu den Hauptaufgaben von Kunstmuseen gehört, der aktuellen Kunstproduktion eine Plattform zu geben sowie das Kulturspezifische zu dokumentieren, um die eigene Kunstgeschichte weiterzuerzählen, dann wird klar, dass seit geraumer Zeit eine besondere historische Phase eingetreten ist. Denn die Globalisierung macht auch vor der Kunst nicht Halt. Seit 1989 wird die Hegemonie westlicher Kunst Schritt für Schritt angezweifelt und durch die Sichtbarmachung künstlerischen Schaffens aus nicht-westlichen Kulturen demontiert.

Das Datum fällt mit dem Ende des Kalten Krieges, dem Fall der Berliner Mauer sowie dem Anfang vom Ende der Apartheid zusammen – es war auch für die Kunst ein epochaler Befreiungsschlag. Denn es öffnete sich dadurch ihr Blick auf die globale Wirklichkeit.

Kathleen Bühler ist Vorstandsmitglied des Schweizerischen Kunstvereins (bis 2016) und Kuratorin. Sie kuratierte die Ausstellung “Chinese Whispers – Neue Kunst aus den Sigg und M+ Sigg Collections”, die im Kunstmuseum Bern noch bis 25. September zu sehen ist. RDB

In der Kunst ist die Konfrontation mit anderen Kulturen immer wieder ein entscheidendes Moment der Erneuerung gewesen: Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert waren Japonismus und Primitivismus wichtige Strömungen. Sie brachten westliche Künstler dazu, sich vom japanischen Holzschnitt oder von afrikanischer Stammeskunst inspirieren zu lassen. Beide Momente waren mit der Entwicklung der Moderne zentral verbunden. Doch ging es dabei immer auch um eine Wertehierarchie: Das Neue, Nicht-Europäische wurde primär als Exotisches und damit Unterlegenes wahrgenommen.

Es widerspiegelte sich darin vorrangig die damalige koloniale Weltordnung, und so stellt sich die Frage, ob und inwiefern sich heute dieses Verhältnis in der Wahrnehmung von Kunst verändert haben könnte. Als aktuelles Beispiel möge eine Ausstellung im Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee über chinesische Gegenwartskunst dienen, denen ein sensationeller Publikumserfolg beschieden ist – über 90’000 Besucher bei einer jährlichen Quote von durchschnittlich je 100’000. 

Welt und Kunst sind in Bewegung

Wie ist dieses Interesse zu erklären? Mit dem Umstand, dass das Fremde, das Exotische und damit reines Schauvergnügen zelebriert wird? Oder damit, dass China dem Westen als Wirtschaftsmacht auf den Pelz gerückt ist und sich das Publikum mittels Kunst ein informierteres Bild von China machen möchte? Mit der Erleichterung, eine Kunst zu erleben, die keine intellektuelle, ironische Gefühlskälte ausstrahlt, wie wir sie von westlichen Kunstevents gewohnt sind? Oder dem Umstand, dass vor Jahrzehnten ein einzelner Schweizer Kunstliebhaber ausgezogen ist, um uns als Sammler “die Welt” vor die Tür zu legen und uns damit Bewunderung abzuringen?

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Ein Merkmal der Berner Ausstellung ist der Versuch, gleichzeitig unser Verhältnis zur chinesischen Kultur, unsere eigenen Stereotypen und Erwartungen gegenüber China in den Blick zu nehmen, im Wissen darum, dass selbst Nationalität – das führt uns gerade die Fussball-EM mit ihren ethnisch bunt durchmischten Nationalmannschaften vor Augen – keine essenzielle Eigenschaft ist, sondern sich aus Erfahrungen und Erinnerungen speist, die wir mit dem Ort verbinden, an dem wir aufgewachsen oder gegenwärtig wohnhaft sind.

Nationalität und kulturelle Identität sind im Fluss, sind Ergebnis von Erzählungen, zu denen die Kunst viele beisteuern kann. Doch wie gross war bisher die “Willkommenskultur” in Schweizer Kunstmuseen? Wie sehr widerspiegeln sich die neuen Migrationsbewegungen in den Ausstellungsprogrammen und Sammlungsankäufen von Schweizer Kunstmuseen? Ist das Bewusstsein angekommen, dass auch unsere eigene Bevölkerung längst ein Patchwork von Minderheiten ist? Das sind die Fragen, die sich Schweizer Kunstmuseen vermehrt stellen müssen, sofern sie am Puls der Zeit agieren wollen. Schon die starke Kunst unserer Secondas und Secondos, wie etwa jene von Loredana Sperini, Costa Vece, Andro Wekua, Ingrid Wildi oder Shirana Shabazi, wurzelt in diesem Erfahrungsschatz.

Darüber hinaus aber gilt es, sich der Erkenntnis zu öffnen, dass unsere überlieferte Definition von Kunst, unsere Kriterien künstlerischer Qualität neu diskutiert werden müssen, wollen wir eine gleichberechtigte Begegnung unterschiedlicher kultureller Auffassungen ermöglichen oder zulassen, dass sich unsere festgefahrenen Vorstellungen aufweichen. Muss unsere Gegenwartskunst sich beispielsweise nach wie vor am Kanon der modernen Formgebung und westlichen Kunstgeschichte ausrichten? Wie und wann befreit sie sich aus dem Zwang des postmodernen Zitats und wendet sich wieder dem realen Leben, der Politik, der Subjektivität zu?

Erst wenn solche Bewusstseinsprozesse in Gang gekommen sind, kann es zu einem eigentlichen Befreiungsschlag kommen – von unserer künstlerischen Monokultur, aber auch von der Tyrannei des heute übermächtigen Kunstmarktes.

Dieser Text ist am 15. 06. 2016 in der © NZZ erschienen.

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene der Autorin. Sie müssen sich nicht mit jenen von swissinfo.ch decken.

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