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“Moskau verliert die Kontrolle über den Kaukasus”

Alex Majoli/Magnum

Heidi Tagliavini, ein Schwergewicht der schweizerischen und internationalen Diplomatie in Osteuropa, spricht mit swissinfo.ch über die Tragödien in dieser Region, die durch den Zusammenbruch der Sowjetunion vor über 20 Jahren noch verschärft wurden.

Die frühere Botschafterin spricht acht Sprachen und absolvierte in ihrer 30-jährigen Karriere 18 Missionen – im Auftrag der UNO, der EU und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Im Gespräch erinnert Tagliavini, die seit März 2012 im Ruhestand ist, an die Friedensbemühungen in Georgien, wo sie fast 10 Jahre lang tätig war.

swissinfo.ch: In Ihrer 30-jährigen Karriere waren Sie hauptsächlich im ehemaligen kommunistischen Ostblock tätig. Ihr Leben ist gewissermassen geprägt vom Ende des Kalten Krieges und der Geschichte des europäischen Kontinents.

Heidi Tagliavini: Das kann man so sagen. Meine Karriere begann mit der Stagnation der Ära Breschnew und verlief über Gorbatschow bis hin zu Jelzin. 1991 war ich in Moskau, als die sowjetische Flagge vor dem Kreml heruntergeholt und durch die russische ersetzt wurde. Das war emotional ein grosser Augenblick, aber auch ein Moment der Unsicherheit.

Nach der Konferenz von Alma-Ata im Dezember 1991, welche die Auflösung der UdSSR markierte, war ich an der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Schweiz und mindestens 10 der 15 neuen Länder beteiligt.

Das hat mich geprägt. Auch 20 Jahre später bin ich noch immer fasziniert von den enormen Entwicklungs-Unterschieden unter diesen sozialistischen Republiken, die damals mehrheitlich keinen Anspruch auf Unabhängigkeit hegten.

swissinfo.ch: Und vor knapp 20 Jahren erlebten Sie dann während des ersten Tschetschenien-Krieges (1994-1996) Ihre wirkliche diplomatische Feuertaufe?

H.T.: Ja. Ich war in den Niederlanden, meinem einzigen “klassischen” Diplomatenposten. 1995, als Russland im Friedensprozess grünes Licht für eine Mission der OSZE erteilte, an der die Schweiz teilhatte, wurde ich praktisch von einem Tag auf den anderen dorthin versetzt.

Das Erwachen war brutal, denn ich kannte die Realität nicht, die mich in den menschenleeren Strassen Groznys erwartete, das sich im Krieg befand – mit Artilleriebeschüssen während der Nächte. Wir waren sechs OSZE-Diplomaten aus verschiedenen Nationen, die zusammen in einem Haus ohne Türen und Fenster, ohne Wasser, ohne Gas, ohne Strom wohnten.

Diese erste Mission hat mich zutiefst geprägt und mich für mein späteres Engagement motiviert. Ich entdeckte die Arbeit vor Ort, die mir sehr entspricht: nämlich den Kriegsführenden Raum geben, um über einen möglichen Friedensvertrag zu diskutieren und zwar so, dass sie miteinander sprechen. Versuchen, wieder ein wenig Vertrauen zu schaffen, Vorschläge machen und verhandeln, auf die Rechte der Menschen und Flüchtlinge achten, auf den Rechtsstaat usw.

swissinfo.ch: Nach diesem Krieg zwischen den staatlichen Truppen Russlands und den Unabhängigkeitskämpfern hat sich der Aufstand islamisiert und sich über die tschetschenischen Grenzen hinaus fast im ganzen Kaukasus verbreitet.

H.T.: Der Kaukasus ist kulturell, ethnisch und sprachlich eine äusserst reiche Region, hat aber auch eine tragische Geschichte und ein schweres Erbe.

Sein Verhängnis hängt auch mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zusammen. Zu Beginn verlief die Auflösung relativ friedlich, führte dann aber zu einer Reihe schrecklicher und unlösbarer Konflikte, insbesondere an der Peripherie des ehemaligen Reiches, sowohl im Nord- wie auch im Südkaukasus.

Mit der Globalisierung wurde der Islam zu einem politischen Faktor. In der weltlichen UdSSR, wo die Regionen mit der Aussenweilt kaum Beziehungen hatten, war der Islam kein Thema gewesen.

Heute bekommt man in der Tat den Eindruck, dass der Kaukasus der Kontrolle Moskaus mehr und mehr entgleitet, jedenfalls mental, aber man muss hinzufügen, dass dieses Land dermassen riesig ist, dass es schwierig zu kontrollieren ist.

Auch die Kriege in Tschetschenien haben die Dinge nicht zurecht gerückt. Heute ist der Kaukasus eine Gegend, die aufgegeben wurde. Man muss mutig sein, um dort zu arbeiten, und es ist schwierig, Investoren anzulocken.

swissinfo.ch: Dennoch: die olympischen Winterspiele 2014 finden in Sotchi am Schwarzen Meer statt. Hat Russland nicht Interesse daran, die Lage zu normalisieren?

H.T.: Sicher hat Russland Interesse daran, die Situation zu normalisieren, aber wie gesagt: Das ist nicht so einfach. Es dauert noch zwei Jahre bis zu den olympischen Spielen, das ist nicht sehr lange, aber niemand will Wasser in seinen Wein giessen. Und solange es keinen Wiederausbruch der Gewalt, keinen neuen Krieg gibt, wird kaum viel passieren.

Im Moment konzentriert man sich auf die Vorbereitung der Infrastruktur, was in sich schon ein riesiges Projekt ist und offenbar völlig losgelöst vom Problem dieses Konflikts verläuft.

swissinfo.ch: Sie waren knapp 10 Jahre (1998-2008) in Georgien tätig, in verschiedenen Funktionen: Als Vertreterin der UNO, der OSZE, als Verantwortliche der EU-Untersuchungskommission zum Krieg. Hat sich seit 2008 nichts verändert?

H.T.: Bereits 1998 war es schwierig, eine Lösung zu finden, da der Konflikt zwischen Georgien und Abchasien auf zwei nichtkompatiblen Forderungen beruhte. Beim einen ging es um die Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien, der andere betraf die territoriale Integrität Georgiens, die international anerkannt war.

Das war die Quadratur des Zirkels, und auch wenn es uns damals nicht gelang, Frieden herbeizuführen, so haben wir dennoch in verschiedenen Bereichen Fortschritte erreicht: Es gibt regelmässige Kontakte und nahezu vertrauenswürdige Beziehungen zwischen den Parteien.

In einem Konflikt gibt es immer auch eine internationale Komponente. Diese widerspiegelt sich im UNO-Sicherheitsrat, von dem unser Mandat abhing, wo Frankreich, Grossbritannien und die USA häufig nicht die Positionen Chinas oder Russlands teilten.

Der georgische Präsident Michail Saakaschwili vertritt seit seinem Amtsantritt 2004 eine klar westliche Haltung und ist auch für die NATO, während Russland mehr oder weniger offen den Separatismus von Abchasien und Südossetien unterstützt, indem es zum Beispiel russische Pässe verteilt.

In unserem Bericht zum Konflikt in Georgien haben wir das als Einmischung in die georgischen Angelegenheit bezeichnet und folglich als Verletzung internationalen Rechts.

swissinfo.ch: Diese Entwicklung machte den Prozess noch schwieriger, 2008 brach der Krieg in Südossetien aus….

H.T.: …er hätte ebenso auch in Abchasien ausbrechen können. Es ist klar, dass dieser Konflikt die vier Parteien zu tiefst traumatisiert hat. Es ist eine rote Linie, die nie hätte überschritten werden dürfen, weil seither das Klima so sehr aufgeheizter ist, dass heute jede Diskussion unmöglich scheint.

Nach dem Krieg von 2008 hat Russland die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens anerkannt, was von einem internationalen Standpunkt aus gesehen nicht haltbar ist. Die internationale Gemeinschaft hingegen hält sich weiterhin an die territoriale Integrität Georgiens, die faktisch nicht mehr existiert.

Nach dem Krieg von 2008 wurden alle friedenserhaltenden Missionen in der Region eingestellt. Es gibt lediglich noch die Treffen von Genf (Geneva talks), die regelmässig stattfinden, die während des ersten Tschetschenien-Krieges (1994-1996) Diskussionen über konkrete Aspekte der Konfliktparteien ermöglichen: die Sicherheit der Bevölkerung, die Rückkehr von Flüchtlingen und Vertriebenen. Das ist wenig, ermöglicht aber zumindest, den Kontakt aufrecht zu erhalten.

swissinfo.ch: Ihre Karriere personifiziert in einem gewissen Sinne die Schweizer Politik der guten Dienste und der Neutralität, die in der Schweiz regelmässig zu Kritik führen…

H.T.: Es stimmt, in den 1990-Jahren wurde die Neutralität in Frage gestellt. Aber ich kann sagen, dass ich in allen Konflikten jeweils als Person wahrgenommen wurde, die aus einem neutralen Land kam, das keine versteckte Agenda hatte und seit 150 Jahren friedlich war. Das gibt uns einen Glaubwürdigkeits-Bonus, den es zu nutzen gilt.

Natürlich kennt unsere Geschichte auch mehr oder weniger zweifelhafte Kapitel, aber man muss unterscheiden, denn unsere guten Dienste sind noch immer gefragt und häufig nützlich. Dass nach dem Krieg von 2008 Georgien und Russland die Schweiz anfragten, ihre jeweiligen Interessen zu vertreten, ist erneut ein Beweis dafür.

Heidi Tagliavini wurde 1950 in Basel geboren.

In Genf studierte sie Philologie (u.a. Russisch).

1982 trat sie in den schweizerischen diplomatischen Dienst ein.

1995 wurde sie mit der ersten OSZE-Unterstützungsgruppe nach Tschetschenien entsandt.

1998-1999 war sie Sondergesandte der UNO-Beobachtermission in Georgien.

2000 war sie die persönliche Vertreterin des österreichischen OSZE-Vorsitzes für Missionen im Kaukasus.

2001-2002: Botschafterin in Bosnien und Herzegowina.

2002-2006: Sonderbeauftragte der UNO-Beobachtermission in Georgien.

2008-2009 übernahm Tagliavini im Auftrag des EU-Aussenministerrats die Leitung der Unabhängigen Internationalen Untersuchungsmission über den Konflikt in Georgien. Der Bericht wurde Ende September 2009 veröffentlicht.

Wahlbeobachterin bei den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine (2010) und in Russland (2012).

2010 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universitäten Basel und Bern.

Seit März 2012 ist sie im Ruhestand.

(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)

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