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Vom chancenlosen Misstrauenshebel zum Politik-Schreck

Unterschriftensammlung für eine Volksinitiative. Mit ihr können Bürger eine Forderung aufstellen, auf welche die Behörden verbindlich antworten müssen. Sagt das Volk an der Urne Ja, muss die Verfassung geändert werden. Keystone

Sie ist allgegenwärtig im politischen Alltag der heutigen Schweiz: Die Volksinitiative. In ihren Anfängen war das anders: Sie war ein - nur wenig genutzter - Hebel des Misstrauens, mit dem die Bürger Regierung und Parlament zu Veränderungen bewegen konnten. In Beitrag zeichnet der Historiker Bernard Degen für swissinfo.ch den Weg dieses wirkungsvollen Volksrechts nach. 

125 Jahre Schweizer Volksinitiative: Dieser Beitrag ist Teil des Jubiläums-Schwerpunktes von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch,

Vor 125 Jahren, am 5. Juli 1891, genehmigten die stimmberechtigten Männer die Revision des dritten Abschnittes der schweizerischen Bundesverfassung. Dieser enthielt als zentrale Neuerung die Volksinitiative auf Bundesebene. Mit ihr konnten 50’000 Stimmberechtigte eine Verfassungsänderung vorschlagen, über die dann sämtliche Stimmberechtigten zu befinden hatten.

Der Historiker Bernard Degen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Geschichte an der Universität Basel. Er ist Autor zahlreicher Beiträge und zählt zu den führenden Forschern im Bereich des modernen Bundesstaates Schweiz. SRF

Nach der späten Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen wurde 1977 die Zahl der Unterschriften auf 100’000 erhöht. Bis 1971 wurden 100 Volksinitiativen eingereicht, in den folgenden 23 Jahren weitere 100. Für die nächsten 100 brauchte es nur noch 18 Jahre, und in den letzten dreieinhalb Jahren kamen noch einmal 23 dazu.

Wie beim Referendum handelt es sich bei der Volksinitiative primär um ein Misstrauens- oder Oppositionsinstrument gegenüber gewählten Behörden. Während aber Ersteres die Erhaltung des Status quo bezweckt, strebt Letztere eine Veränderung an. Verfassungsgeschichtlich geht die Volksinitiative auf die Französische Revolution zurück, genauer auf die Montagnard-Verfassung von 1793.

In der Schweiz ebneten die Massenpetitionen, die beim Auftakt der Regeneration Externer Link(um 1830) eine zentrale Rolle spielten, den Weg. Nach und nach fanden Volksinitiativen Eingang in kantonale Verfassungen, zuerst allerdings nur solche zur Totalrevision. Diese fand 1848 auch Eingang in die erste BundesverfassungExterner Link, wurde seither allerdings nur einmal eingereicht, nämlich 1934 von rechtsextremen Kreisen.

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Die Volksinitiative zur Teilrevision der Bundesverfassung – also die übliche Form – verbreitete sich in Kantonen sowie in Städten und grösseren Gemeinden seit den 1860er-Jahren. Auf Bundesebene stiess sie lange auf Widerstand. Den Durchbruch brachte eine Motion, die der Luzerner Nationalrat und spätere Bundesrat Josef Zemp (1834-1908) und andere katholisch-konservative Politiker 1884 eingereicht hatten.

Sie führte am 8. April 1891 im Parlament zur Verabschiedung von Artikel 121 der Bundesverfassung, der die Volksinitiative zur Teilrevision vorsah. Die damals nötigen 50’000 Unterschriften entsprachen fast acht Prozent der Stimmberechtigten, die heute nötigen 100’000 Unterschriften dagegen weniger als zwei Prozent. Die anfänglich nicht geregelte Sammelfrist wurde 1976 auf 18 Monate begrenzt.

Bereits 14 Monate nach Inkrafttreten des Verfassungsartikels wurde als erste Volksinitiative die für ein Schächtverbot eingereicht; sie fand an der Urne Zustimmung. Trotz dieses institutionell erfolgreichen Auftakts wurde das Instrument aber lange nur selten genutzt.

Dies änderte sich erstmals in der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre. In der Zeit des Zweiten Weltkrieges und danach ging die Anwendung zurück, stieg dann aber in den 1950er-Jahren erneut stark an, vor allem wegen der finanz-, sozial- und militärpolitischen Auseinandersetzungen.

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Nach einem Rückgang im ersten Jahrzehnt der ZauberformelExterner Link (1959) erfuhr die Volksinitiative seit den 1970er-Jahren infolge der zunehmenden Kritik an der Konkordanzdemokratie eine bisher nicht annähernd gekannte Verbreitung.

Trotz des aus der Sicht der Initianten geglückten Startes hatten Volksinitiativen lange kaum Chancen. Von den ersten 100 wurden – verteilt über acht Jahrzehnte – nur deren sieben angenommen, wovon aber nur drei politisch bedeutende: 1918 die Proporzwahl des Nationalrates, 1921 das Staatsvertragsreferendum und 1949 die Einschränkung des Notrechtes.

Vom zweiten Hundert erreichten in knapp einem Vierteljahrhundert fünf die Mehrheit der Abstimmenden, mehrheitlich mit grünen Anliegen: 1987 Schutz der Moore, 1990 Atomkraftwerkbau-Moratorium und 1994 Schutz der Alpen. Schliesslich fanden vom dritten Hundert in weniger als zwei Jahrzehnten zehn Eingang in die Bundesverfassung, ausser dem Beitritt zur UNO 2002 mit mehrheitlich emotional aufgeladenen Themen der Rechten wie Einwanderung, Minarette oder Kriminelle.

Auch abgelehnte oder zurückgezogene Volksinitiativen zeitigten immer wieder Wirkung, indem sie Behörden zum Handeln in der Form direkter oder indirekter Gegenvorschläge veranlassten. Nutzen und Schaden waren dauernd Themen der öffentlichen Diskussion. Ob die Volksinitiative tatsächlich eine raschere Reaktion auf neue Problemlagen erlaubt oder ob sie Behörden durch ihre dauernde Anwendung von der Ausarbeitung langfristiger Reformen abhält, ist umstritten.

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