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Volksinitiativen ohne das Volk?

Sandro Lüscher

Die Reform der Volksrechte ist in der Schweiz praktisch ein politisches Tabu. Jüngst hat die Bürgerlich-Demokratische Partei einen neuen Vorstoss lanciert: Für eine Volksinitiative sollen neu bis 250'000 statt 100'000 Unterschriften nötig sein. So will die BDP die "Initiativenflut" senken. Der Zürcher Politologe Sandro Lüscher weist den Vorschlag klar ab.

Die direktdemokratischen Institutionen, wie wir sie heute kennen, waren kein “Verfassungsgeschenk” der Gründerväter des modernen schweizerischen Bundesstaates anno 1848, sondern wurde gegen die herrschenden Kräfte des politischen Systems erstritten und schrittweise ausgebaut.

Obwohl sich die direktdemokratischen Institutionen längst zu einem integralen Bestandteil unserer politischen Identität gefestigt haben, ist die Kritik an ihnen keineswegs verstummt. Im Gegenteil: Die Kritik an den Volksrechten nimmt immer unversöhnlichere Töne an.

Obschon eine kritische Auseinandersetzung mit der direkten Demokratie – zumal für deren Weiterentwicklung – durchaus begrüssenswert ist, so lässt sich bedauerlicherweise feststellen, dass oft mit Halbwissen für die Einschränkung der Volksrechte argumentiert wird. Das ist gefährlich und verhindert eine sachdienliche Debatte.

Als jüngstes Beispiel lässt sich die Forderung der BDP nach der Erhöhung des Unterschriftenquorums für Volksinitiativen und Referenden nennen. Ihr Parteipräsident Martin Landolt diagnostiziert eine generelle Abstimmungsmüdigkeit in der Bevölkerung und fordert flugs, man solle haushälterischer mit den demokratischen Freiheiten umgehen. Zudem führe es zu einer “zunehmenden Unberechenbarkeit des Standorts Schweiz, wenn die Erfolgsfaktoren vierteljährlich zur Disposition gestellt werden”, zitiert Landolt besorgte Unternehmer am kürzlichen Swiss Economic Forum.

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Reform der Volksrechte ist in der Schweizer Demokratie ein politisches Tabu. In den letzten knapp 40 Jahren sind alle grösseren Vorschläge gescheitert. Jetzt fordert die BDP eine markante Erhöhung der Unterschriftenzahl für eine Initiative. Das sind die beiden Standpunkte Pro und Kontra, die wir publiziert haben.  Diskutieren Sie mit uns unten in den Kommentaren! Die…

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Dabei verkennt Landolt, dass die Volksrechte selber einen ziemlich einzigartigen Erfolgsfaktor unseres Landes darstellen, indem sie Politik und Wirtschaft gesellschaftlich erden und so zu einer hohen Systemstabilität und -zufriedenheit beitragen. Eine weitere falsche Prämisse in der gegenwärtigen Debatte ist die angebliche “Initiativenflut”. Obschon die Anzahl lancierter Initiativen in den letzten Jahren zugenommen hat, so ist die Anzahl tatsächlich abgestimmter Initiativen ziemlich konstant geblieben.

Viele Initiativen versanden bereits im Stadium der Unterschriftensammlung. Es wurde also für die Initiativkomitees trotz Bevölkerungswachstum und Digitalisierung der Medien und politischen Kommunikation nicht einfacher, an Unterschriften zu kommen, wie dies oft suggeriert wird.

Doch was mich eigentlich noch mehr beunruhigt als Falschargumente ist die Vorstellung, wonach eine vitale Abstimmungsdemokratie den Motor unseres politischen Systems zum Überhitzen bringe. Volk, Parteien und Institutionen seien für hohe Abstimmungsfrequenzen nicht kalibriert, was zur Abnutzung der Volksrechte führe, so der Tenor.

Im Gegensatz zu jenen, die die lebhaften direktdemokratischen Auseinandersetzungen als eine lästige Zumutung empfinden, sie sogar als eine potenzielle Gefahr für die demokratische Grundordnung denunzieren und der direkten Demokratie auf Teufel komm raus die Flügel stutzen wollen, sehe ich gerade im Abstimmungspluralismus einen Mehrgewinn. So haben wir das Privileg, über die unterschiedlichsten Sachthemen zu diskutieren und auf der Basis dieser dialektischen Prozedur politisch verbindliche Entscheidungen zu fällen. Nicht nur über solche, die von ohnehin mächtigen Politkateuren rühren, sondern gerade auch über Anliegen von Minderheiten.

Zudem ist eine vitale direkte Demokratie aus meiner Optik ein Beweis dafür, dass unser politisches System funktioniert. Sorgen sollte man sich viel eher machen, wenn wegen völlig realitätsfernen Unterschriftenquoren nur noch finanzpotente Interessengruppen den Takt und die Agenda unserer Abstimmungsdemokratie bestimmen.


Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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