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Nur im Schadenfall oder digitaler Bürgerdialog in Zürich City

Geschäft in der Stadt Zürich mit heruntergezogenen Storen, die versprayt sind
Mängel, Aufreger, Pannen: Via App können Stadtzürcherinnen und Stadtzürcher ihren Behörden versprayte Hausmauern, lückenhafte Absperrungen von Baustellen etc. melden. Die Behebung oder Instandstellung erfolgt innert verbindlicher Frist. Steffen Schmitt / Keystone

Smart Cities sind Städte, die ihre Bürger auch als Ressource nutzen. Indem sie bei der Problemlösung die Expertise und Innovationskraft ihrer Bewohner digital abschöpfen. Im Norden Hollands etwa setzt eine Lokalbehörde auf "Schwarm-Intelligenz", um ein dramatisches Artensterben in der Natur zu bremsen. Zürich, grösste Schweizer Stadt, hat auch smarte Bürger. Sie können aber vorerst nur Schäden digital melden.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern auch aussenstehende Autorinnen und Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit derjenigen von SWI swissinfo.ch decken.

“Riesiges Schlagloch (voll mit Regenwasser)”, “Sperrmüll deponiert”, “Gefährliche Lücke für Velofahrer”, “bronzene Brunnenfigur besprayt”, “Videoüberwachung in der Velostation”: Das sind ein paar aktuelle Muster aus bisher über 15’500 Schadensmeldungen, die Zürcherinnen und Zürchern bisher an ihre Stadtbehörden gerichtet haben – dies per App Züri wie NeuExterner Link.

Schön. Aber hier ist Ende der Fahnenstange, was digitale Bürgerbeteiligung in Zürich betrifft.

Andere Städte sind da etwas weiter: 27 europäische Städte sind auf CivocracyExterner Link vertreten. Es ist dies eine von mehreren Plattformen, auf denen sich Lokalregierungen und -behörden mit ihren Bürgern digital vernetzen können.

So geschehen auch im Norden der Niederlande: Dor hat die Biodiversität in den letzten 30 Jahren um sage und schreibe 50% abgenommen. Deshalb wurde die Bevölkerung auf Civocracy eingeladen, Ideen beizusteuern, wie dieses verhängnisvolle Artensterben gebremst werden könnte.

“Smart” sind auch französische Städte und Regionen. Die Metropole Lyon nutzte die Plattform, um mit Lehrern, Eltern und Schülern den richtigen Schulrhythmus zu finden. Und die Metropolitan-Region Nizza Côte Azur rief ihre Bewohner per Civocracy auf, ihre Anliegen an die Behörden direkter mitzuteilen.

Bottom-Up-Projekt

Wie sieht es in der Schweiz aus? Sie ist ja bekanntlich Pionierin in Bürgerbeteiligung und war das lange auch beim E-Voting. Somit müsste die digitale Bürgerbeteiligung bei uns längst Standard sein. Denkste.

Ein Blick in die Schweizer Städte sorgt für einige Ernüchterung. In den letzten Monaten für Aufsehen gesorgt hat einzig die Anwendung in Zürich. Jährlich melden Bewohnerinnen und Bewohner der grössten Stadt der Schweiz digital rund 2500 Schäden an städtischen Einrichtungen und Infrastruktur.

“Züri wie Neu”

Folgende acht Stadtbehörden Zürichs beantworten die digitalen Meldungen der Bürger und beheben die Schäden: Entsorgung und Recycling, Tiefbauamt, Grün Stadt Zürich, Dienstabteilung Verkehr, Immobilien Stadt Zürich, Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (EWZ), Wasserversorgung und Verkehrsbetriebe (VBZ)

Seit dem Start im Jahr 2013 kamen so über 15’000 Meldungen zusammen. Und wer hat’s erfunden? Der Vorschlag wurde bottom-up eingereicht, von einem Bürger im Rahmen eines Ideenwettbewerbs der Stadtverwaltung im Jahre 2010. Dabei waren mehr als 600 Vorschläge von Bürgerinnen und Bürgern zusammengekommen.

Credo: Transparenz und Verbindlichkeit

Die Zürcher Stadtbehörden nahmen den Ball auf und entwickelten – gemeinsam mit dem Non-Profit-Dienstleister MySocietyExterner Link – das heutige Tool. Dieses funktioniert durchaus zur Zufriedenheit aller Beteiligten.

Eine Umfrage der Universität BernExterner Link hat ergeben, dass Dreiviertel aller Nutzenden einen klaren Mehrwert in der Applikation sehen. Und dies für vergleichsweise günstige120’000 Franken – so viel kostete die Entwicklung. Die jährlichen Betriebskosten betragen sehr bescheidene 8000 Franken. 

Das macht “Züri wie Neu” zum effizienten Beispiel dafür, wie eine Stadt die Stimmen ihrer Bewohnerinnen und Bewohnern hört und ernst nimmt. 

Bei der Anwendung, die es online oder als App für Smartpones gibt, wird der Ort eingeben, der Schaden beschrieben, ein Foto hochgeladen, die Meldung mit Kontaktangaben versehen und ab geht die digitale Post.

Christian Gees von der Zürcher Stadtbehörde
Die Zürcher Stadtbehörden und Projektleiter Christian Gees haben die via App gemeldeten Schadensmeldungen in einem Buch gesammelt. Stefan Klauser/swissinfo.ch

“Die Stadt, das sind rund 15 Leute in zahlreichen Dienstabteilungen, sorgt für eine Beantwortung innert spätestens sechs Tagen und eine speditive Behebung”, sagt Christian Gees, Leiter des Projekts bei der Stadt Zürich. Der ganze Prozess ist öffentlich einseh- und überprüfbar. 

Vertrauen in reale Quartiervereine

Trotzdem aber gibt es Luft nach oben, denn die Applikation ist in erster Linie für die Meldung von Schäden gedacht. Gees und sein Team beantworten zwar Vorschläge und allgemeine Hinweise. Aber die Plattform ist nicht als Marktplatz für Ideen und Inputs aus der Bürgerschaft ausgelegt.

“Die Stadt Zürich bietet ihren Bewohnerinnen und Bewohnern verschiedene Partizipations-Möglichkeiten. Aber bei digitalen Plattformen sind wir noch etwas zurückhaltend”, sagt Christian Gees. 

“Wir bevorzugen, die guten Beziehungen und den Austausch mit den Quartiervereinen aufrecht zu erhalten. Diese sind meist sehr gut damit vertraut, wie der politische Prozess auf Gemeindeebene funktioniert.”

Potenzial besser nutzen

Steht hier das gute Funktionieren der traditionellen, basisdemokratischen Prozesse der Schweiz dem digitalen Fortschritt ein Stück weit im Weg? Hinweise dazu gibt es durchaus, so Gees: “Etwa ein Drittel unserer Nutzerinnen und Nutzer vermisst an der Applikation die Möglichkeit, ihre eigenen Ideen und Meinungen auszudrücken. Grundsätzlich könnte man deshalb den Dialog mit den Einwohnerinnen und Einwohnern weiter ausbauen.”

Der Autor*

Der Politikwissenschaftler und Experte für Finanztechnologie Stefan KlauserExterner Link ist Projektleiter “Digital Society” und “Finance 4.0” an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich.

Für #DearDemocracy, die Demokratie-Plattform von swissinfo.ch, schreibt er über Chancen und Risiken der Digitalisierung für die direkte Demokratie der Schweiz. Im Fokus stehen insbesondere der Einfluss von Social Media auf Wahlen und Abstimmungen, digitale Bürgerbeteiligung, Civic Tech und Open Data.

Wie könnte eine Stadt wie Zürich also vermehrt auf die Kreativität und das Wissen ihrer Bewohnerinnen und Bewohner zugreifen, wie dies im erwähnten Beispiel aus den Niederlanden der Fall ist? 

Ansätze vorhanden

Eine Möglichkeit wäre die Kooperation mit europäischen Projekten im Bereich der kollektiven digitalen Entscheidungsfindung. Civocracy ist nur eine von vielen Möglichkeiten.

Oder aber eine direkte Kooperation mit den renommierten Hochschulen der Stadt Zürich. Die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) arbeitet unter anderem an einem solchen Tool namens Smart AgoraExterner Link. Dieses soll es städtischen Behörden erlauben, Ideen zu sammeln und Umfragen zu Szenarien zu starten.

Die Nutzerinnen und Nutzer können auch Daten beitragen, die sie via Smartphone sammeln oder eintragen. Die Privatsphäre wird maximal geschützt durch die Verwendung von dezentralisierten Datenübertragungs- und Auswertungsmechanismen. 

Nutzende sollen künftig zudem direkt mittels digitaler Währung zum Mitmachen angeregt werden.

An Ideen mangelt also auch in der Schweiz nicht, nur mit der Umsetzung nehmen wir es – einmal mehr – etwas gemächlicher.

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