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“Für eine friedliche Lösung braucht es eine Generation”

Polizeigewalt während der Abstimmung über die Unabhängigkeit Kataloniens vom 1. Oktober 2017.
Am letzten Sonntag in Barcelona: Ein Polizist des spanischen Zentralstaats schlägt mit einem Hammer auf eine Gittertüre. Sie versperrt ihm den Weg zu einem Abstimmungslokal, in dem Bürger Kataloniens über die Unabhängigkeit ihrer Provinz abstimmten. Alain Pitton/NurPhoto

Die Bilder waren wüst, die am Wochenende aus Spanien um die Welt gingen: Polizisten der Zentralregierung Madrids, die auf Bürger Kataloniens einprügelten, weil diese über die Unabhängigkeit ihrer Region abstimmten. Die Bilanz: an die 900 verletzte Bürger und ein demokratischer Scherbenhaufen. Den zu beseitigen, dauere mindestens 20 Jahre, sagt der Schweizer Politikwissenschaftler Wolf Linder.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.

swissinfo.ch: Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Bilder aus der Demokratie Spanien gesehen haben?

Wolf Linder: Ich bin wie alle erschrocken. Nicht nur wegen der Gewalt der spanischen Polizei gegen katalanische Stimmbürger. Sondern auch, weil die Bilder die tiefe gesellschaftspolitische Spaltung zwischen Katalonien und der Zentralregierung sichtbar machen.

swissinfo.ch: Wieso will sich Katalonien von Spanien loslösen?

W. L: Es heisst oft, die Katalanen müssten zu viel Geld an Madrid abliefern. Aber die Unabhängigkeitsbewegung hat lange historische Wurzeln, es geht um viel mehr als Geld. Katalonien war lange unabhängig und wurde erst 1714 in Spanien einverleibt. In der I. Republik wurde es Ende 19. Jahrhundert wieder autonom. Dies wurde 1934/39 durch die Machtergreifung Francos zunichte gemacht. Alle eigenen politischen Institutionen wurden aufgelöst und die katalanische Sprache verboten.

Nach Francos Tod kam Katalonien 1980 im Zuge der Demokratisierung Spaniens zu einer beschränkten Autonomie. Ausgenommen waren aber finanzielle Kompetenzen.

2006 wurde das Autonomiestatut erweitert. Aber die national-konservative Partei hat dies 2010 angefochten, worauf das Verfassungsgericht die Autonomie wieder beschnitt. Das führte zu einer neuen Zentralisierung, was den Konflikt schürte. Es geht auch um die Andersartigkeit der Katalanen. Sie wollen ihre eigenen Institutionen, ihre eigene Sprache und Kultur erhalten.

Wolf Linder ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern.
Wolf Linder ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern. Gesellschaftliche Konflikte zählen zu seinen Forschungsschwerpunkten. Zoonpoliticon

swissinfo.ch: Haben die Katalanen überhaupt ein Recht auf Sezession?

W.L.: Nach spanischem Recht haben sie kein Recht dazu, die spanische Verfassung ist da eindeutig. Das Völkerrecht gibt keine eindeutige Antwort darauf. Es kennt einerseits kein Recht auf Sezession, andererseits gilt der Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker. In diesem Vakuum spielt das internationale Recht keine grosse Rolle. Ausschlaggebend sind die Machtkonstellationen. Der Kosovo wurde sehr rasch von den USA, Deutschland und der Schweiz als eigenständiger Staat anerkannt, weil es diesen Ländern passte. Die Katalanen aber haben schlechte Karten, weil sie international keine Verbündeten haben.

Die EU, von der vielerorts eine Rolle als Vermittlerin erwartet wird, hat weder ein Interesse noch rechtliche Möglichkeiten, in die inneren Angelegenheiten Spaniens einzugreifen. Vielmehr sieht es die EU als ihre Aufgabe, die territoriale Unversehrtheit ihrer Mitglieder zu achten.

swissinfo.ch: Sezessions-Referenden in Katalonien und Schottenland, Pläne in der Lombardei, eine faktische Zweiteilung Belgiens: Droht der EU eine Erosion durch Regionen?

W.L.: Solche Autonomiebestrebungen sind in der Tat nicht auf Spanien beschränkt. Aber solange das innerstaatliche Vorgänge sind, mischt sich die EU nicht direkt, aber indirekt ein. So liess sie seinerzeit verlauten, dass Schottland im Sezessionsfall nicht einfach in die Union aufgenommen würde, sondern ein Beitragsgesuch zu stellen hätte.

swissinfo.ch: Schürt die EU, die von vielen als zentralistischer und technokratische Zentralgewalt empfunden wird, Gelüste der Regionen nach Loslösung?

W.L.: Ich weiss nicht, ob es einen klaren Zusammenhang gibt. Aber zentralisierte Regulierungen, wie sie die EU vorantreibt, rufen Gegenbewegungen hervor, zu denen auch Forderungen nach vermehrter regionaler Autonomie gehören können.

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swissinfo.ch: Zurück nach Spanien: Was wären innerstaatliche Lösungsansätze gewesen, um die Eskalation zu verhindern?

W.L.: Ich sehe drei Möglichkeiten: Autonomie, Föderalismus und Sezession. Die Stärkung der Autonomie Kataloniens wäre die schwächste, politisch aber am ehesten realisierbare Variante. Man müsste mit der finanziellen Autonomie, also einer eigenen Steuerhoheit, beginnen. In der Schweiz überweist der reiche Kanton Zürich jährlich erhebliche Beiträge an die schwächeren Kantone Uri oder Bern. Eine solche Solidarität entsteht aber nur, wenn der Ausgleich zwischen starken und schwachen Regionen nicht vom Zentralstaat dekretiert wird, sondern alle Betroffenen bei der Aushandlung einer Lösung mitwirken und diese dann gemeinsam beschliessen.

swissinfo.ch: Ein föderalistisches Spanien –wie könnte das aussehen?

W.L.: Föderalismus würde die grösstmögliche Autonomie unter einem gemeinsamen Dach bringen. Ebenso die Mitwirkung der Teilstaaten bei wichtigen Entscheiden. Dafür müsste die spanische Verfassung geändert werden. Dies ist solange ausser Reichweite, als die politischen Eliten Madrids die Einheit Spaniens bedroht sehen und keine Macht an die Regionen abgeben wollen. Der Vorteil aber wäre eine symmetrische Lösung, bei der alle Regionen dieselbe Autonomie hätten. Der Prozess wäre lange, aber aussichtsreich.

swissinfo.ch: Die Sezession ist ja laut spanischer Verfassung eben nicht erlaubt. Eine solche war übrigens auch in der Schweiz Thema, als in den 1970er-Jahren Separatisten den Kanton Jura Frankreich zuschlagen wollten.

W.L.: Es gibt da ein Paradox: Ist die Sezession in der Verfassung erlaubt, kommt es eben gerade nicht dazu. Das ist die Erfahrung von Schottland und Kanada: Weil dort diese Möglichkeit besteht, ist die Zentralregierung genötigt, Konflikte durch Verhandlungen mit den Teilstaaten zu lösen und sich mit ihnen gut zu stellen. Schottland und Quebec haben in Volksabstimmungen ihre Zugehörigkeit zu Grossbritannien resp. Kanada bestätigt.

Der Jura mit seiner Sezessionsbestrebung ist ein sehr instruktives Beispiel. Nachdem Roland Beguelin und seine jurassische Bewegung erst den Anschluss an Frankreich verfolgten, forderten sie etwas weniger, nämlich einen eigenen Kanton Jura.

Interessant waren die Verfahren: Bern gab dem jurassischen Kantonsteil die Möglichkeit, sich vom bisherigen Kanton zu trennen. Es waren aber nicht die politischen Eliten, die entschieden, sondern die Stimmberechtigten. Jene Bezirke, die der Trennung zustimmten, bildeten den künftigen Kanton Jura. Zum Schluss hatten die Stimmberechtigten landesweit zu entscheiden, ob sie den Jura als neuen Kanton in der eidgenössischen Verfassung anerkannten. Und siehe da, die übrigen Kantone haben dem Begehren der Jurassier zugestimmt.

Die Katalanen haben die Sache richtig begonnen, sind dann aber wohl mit zu forschem Tempo fortgefahren. Der Entscheid, die Frage dem Volk vorzulegen, war aber richtig.

swissinfo.ch: Welche Schritte sind in Spanien nun angezeigt nach diesem riesigen demokratischen Scherbenhaufen?

W.L.: Autonomie, Föderalismus oder Sezession sind auf kurze Sicht unwahrscheinlich. Gefragt wären vertrauensfördernde Massnahmen, damit die Politiker beider Seiten überhaupt wieder miteinander reden können. Sodann müssten beide Seiten ihre Forderungen etwas zurückschrauben: Katalonien könnte von der Maximalforderung der Sezession abrücken, und Madrid müsste aufhören, stur auf dem geltenden Verfassungsrecht zu bestehen, ohne auf die katalonischen Forderungen einzugehen. Für eine friedliche Lösung des Konflikts braucht es sicher eine Generation, ich vermute mindestens 20 Jahre.

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