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Behinderte wollen auch in der Politik mitreden

Zahlreiche Menschen mit einer geistigen Behinderung interessieren sich für die Politik, können ihre Rechte aber nicht vollumfänglich wahrnehmen. © Keystone / Gaetan Bally

Geistige Behinderung darf kein Hindernis mehr für die Ausübung politischer Rechte sein. So lautet das Credo von Insieme Schweiz. Mit Blick auf den 20. Oktober hat die Dachorganisation der Elternvereine für Menschen mit einer geistigen Behinderung eine Broschüre mit Wahlinformationen in leichter Sprache herausgegeben.

Menschen mit einer geistigen Behinderung haben die gleichen Rechte wie jeder andere Bürger. Sofern sie nicht einer Beistandschaft unterstellt sind (siehe Kasten), gehört dazu auch das Stimm- und Wahlrecht. Die UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit BehinderungenExterner Link, welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat, verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, die Teilnahme von Menschen mit Behinderung am politischen und öffentlichen Leben sicherzustellen.

In der Praxis präsentiert sich die Situation allerdings nicht so idyllisch. Die Schweiz betont gerne, bei der Bürgerbeteiligung und dem Schutz von Minderheiten an vorderster Front zu stehen. Doch stossen Menschen mit Behinderungen nach wie vor auf viele Hindernisse, die es ihnen verunmöglichen, ihre politischen Rechte voll auszuüben.

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Obwohl die meisten Menschen mit einer geistigen Behinderung wählen dürften, werden viele aufgrund der Komplexität des demokratischen Prozesses entmutigt. “Viele Menschen mit einer geistigen Behinderung sind an der Politik interessiert und möchten sich mehr an Wahlen und Umfragen beteiligen. Aber es ist für sie sehr schwierig, die offiziellen Informationen in den per Post verschickten Stimmmaterialien zu verstehen”, sagt Susanne Schanda, Sprecherin von InsiemeExterner Link.

Leichte Sprache

Dies gilt insbesondere für die Eidgenössischen Parlamentswahlen, die in der Schweiz alle vier Jahre stattfinden. Zu verstehen, was eine Parteienliste ist, wie sie geändert werden kann, was Kumulieren oder Panaschieren bedeutet, ist oft eine echte Herausforderung für diese Bevölkerungsgruppe.

Um ihr die Entscheidungsfindung zu erleichtern, hat Insieme zusammen mit der Plattform easyvoteExterner Link eine Broschüre herausgegeben, die in leichter Sprache erklärt, wie Wählen geht. Unterstützt hat die Herausgabe der “Wahlhilfe” das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit BehinderungenExterner Link (EBGB). Die Broschüre kann in den drei Landessprachen gratis bestellt oder heruntergeladenExterner Link werden.

“Menschen mit einer Behinderung sind genauso fähig wie Sie und ich, eine überlegte Entscheidung zu treffen und somit abzustimmen.”

Emmanuelle Seingre, Vizepräsidentin Insieme

“Menschen mit einer geistigen Behinderung sind natürlich unsere Zielgruppe. Aber diese Broschüre kann auch für andere nützlich sein, die manchmal Schwierigkeiten haben, die komplizierte Behördensprache zu verstehen. Ich denke zum Beispiel an junge Menschen, die zum ersten Mal wählen”, sagt Schanda.

Hin zu mehr Autonomie

Dieser Ansatz ist Teil einer grösseren Bewegung, deren Ziel es ist, geistig Behinderten zu mehr Unabhängigkeit und Autonomie zu verhelfen. Seit der Einführung des neuen ErwachsenenschutzrechtsExterner Link im Jahr 2013 gibt es in der Schweiz immer weniger Menschen, die von der Ausübung politischer Rechte ausgeschlossen sind.

“Immer mehr Menschen mit einer geistigen Behinderung wollen sich öffentlich äussern und ihre Rechte geltend machen. Dies zeigt sich besonders deutlich in den Verbänden, wo sie in allen Fragen, die ihre Autonomie und Entscheidungsbefugnis betreffen, stark eingebunden sind”, sagt Emmanuelle Seingre, Vizepräsidentin von Insieme.

Aber besteht nicht die Gefahr, dass Dritte diese scheinbar verletzlicheren Personen beim Ausfüllen des Stimmzettels instrumentalisieren? “Sie sind genauso fähig wie Sie und ich, eine überlegte Entscheidung zu treffen und somit abzustimmen. Man muss ihnen nur Zeit geben und die notwendigen Werkzeuge zur Verfügung stellen”, sagt Seingre.

Sicher ist die Hilfe von Angehörigen manchmal notwendig, um sich eine Meinung zu bilden. Aber das sei etwas sehr Alltägliches, so die Vizepräsidentin: “Man muss keine geistige Behinderung haben, um von anderen beeinflusst zu werden. Das geschieht in allen Familien und in jedem Umfeld. Jeder kann dann seine eigenen Entscheidungen treffen.”

In der Schweiz gibt es 1,6 Millionen Menschen mit Behinderungen. Die Behörden können diejenigen, die von einer schweren und langfristigen Behinderung betroffen sind, unter eine umfassende BeistandschaftExterner Link stellen. Ende 2017 waren mehr als 15’000 Menschen von dieser Massnahme betroffen, wobei es sich hierbei nicht nur um Menschen mit einer geistigen Behinderung handelt. Eine Person kann beispielsweise auch altershalber unter Beistandschaft stehen.

Der Entscheid wird einseitig von der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) getroffen. Mit einer Beistandschaft verliert die betroffene Person automatisch das Stimmrecht. Gegen diesen Verlust gibt es keine Rekursmöglichkeit, ausser die betroffene Person entscheidet sich, Rekurs gegen die Beistandschaft einzulegen. Dieser Umstand verstösst nach Ansicht mehrerer Experten des öffentlichen Rechts gegen die UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Die Kantone Waadt, Genf und Tessin bieten Menschen mit einer Behinderung die Möglichkeit, ihre politischen Rechte vor Gericht geltend zu machen. Das Wahlrecht gilt in diesem Fall nur für Kommunal- und Kantonswahlen, nicht aber auf Bundesebene.

Sie können den Autor auf Twitter kontaktieren: @samueljabergExterner Link

(Übertragung aus dem Französischen: Kathrin Ammann)

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