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Ein Dorf zwischen Tradition und Moderne

Bündner Rheintal: Fläsch im Schnee. swissinfo.ch

Das Bündner Dorf Fläsch erhält den Wakkerpreis 2010 des Schweizer Heimatschutzes. Ein Spaziergang durchs Dorf zeigt, wie der Ort dank einer vorbildlichen Planung seine eigene Identität erhalten konnte.

Es schneit. Das Dörfchen mit seinen 600 Einwohnern scheint in Watte gebettet. Mit dem Gemeindepräsidenten Heinz Urs Kunz laufen wir durch die Gassen. Das Knirschen der Schuhe im frischen Schnee begleitet unseren Spaziergang.

“Fläsch ist vom Druck der Modernität verschont geblieben”, meint Kunz. Die Distanz zu den nächst gelegenen Zentren wie Chur und Landquart liessen das Dorf praktisch intakt, wie vor einigen Jahrzehnten. “Es gab nur wenige Eingriffe in den Ortskern”, sagt der Gemeindepräsident.

Der Schweizer Heimatschutz , eine Stiftung zur Erhaltung der Baukultur, hat Fläsch aber nicht mit dem Wakkerpreis 2010 ausgezeichnet, weil sich das Dorf gegen Fortschritt stemmt, sondern weil die Gemeinde eine innovative und landesweit einzigartige Raumplanung vorantreibt.

Bevölkerung für Ortsplanrevision

“Wir haben neue Leitlinien für die Ortsplanung entwickelt, um die Identität unseres Dorfes als Weinbaudorf zu erhalten und eine Konzentration der Wohnhäuser im Ortskern zu verhindern”, sagt Heinz Urs Kunz.

Das heisst konkret: Dank Landumlegungen konnten die charakteristischen Wein- und Obstgärten im Dorfkern erhalten werden. Tatsächlich ergeben sich zwischen Wohnhäusern und Mauern immer wieder Öffnungen, die auch dem Gast einen Blick auf Weinreben und Obstbäume erlauben. Man hat das Gefühl, atmen zu können.

Die Entwicklung des Dorfes wurde dadurch nicht gebremst. Kunz: “Wir haben die Bauzonen an die Dorfränder verlegt. Rund 50 Besitzer von Terrain im Ortskern haben dieses Planungsziel geteilt. Manche haben ihr Terrainim Dorf an die Gemeinde verkauft. Andere erhielten Realersatz als Bauland in den neuen Bauzonen. Die Bevölkerung hat die Ortsplanungsrevision Ende 2008 in einer Abstimmung gut geheissen.”

Geglückte Symbiose von Alt und Neu

In der Zwischenzeit sind wir auf unserem Spaziergang am Dorfrand angekommen. Wir befinden uns im Rheintal. Perfekt angelegte Rebenzeilen bestimmen hier das Panorama.

“22 Familien in Fläsch betreiben Weinbau”, sagt der Gemeindepräsident. Er weist mit Stolz darauf hin, dass die heimischen Weine sogar über die Landesgrenzen hinaus bekannt sind.

An dieser Stelle betont Kunz eine andere Charakteristik seines Dorfes, die den Heimatschutz dazu bewog, Fläsch den Wakkerpreis zu verleihen. Es ist die Symbiose von Altem und Neuem, von Modernität und Tradition.

Tatsächlich erkennen wir einen Neubau, der als solcher auffällt, aber in keinerlei Konflikt mit seiner Umgebung tritt, obwohl er als Betonmonolith gebaut ist. Es ist das Haus Meuli, erstellt vom Architekturbüro Bearth & Deplazes.

Pilgerort für Architekturtouristen

Das Haus weist die Form eines Prismas auf, steht dabei wie die traditionellen Häuser direkt an der Strasse. Die Fenster scheinen über die Fassade verstreut zu sein. Sicher ist: Althergebrachtes von Bürgerhäusern wird hier mit Zeitgenössischem verbunden

“Im Dorf gibt es weitere Beispiele gelungener neuer Architektur”, schwärmt Heinz Urs Kunz. Er verweist auf das Schulgebäude des Architekten Pablo Horváth, die “Casascura”, entworfen vom Architekten Kurt Hauenstein, oder das Weingut Gantenbein, das ebenfalls von Bearth & Deplazes stammt.

Diese Gebäude haben grosse Bekanntheit erreicht. Insbesondere im Sommer trifft man deutsche Touristen im Dorf, die diese architektonischen Perlen aufsuchen.

Identität hat oberste Priorität

Um das Ziel einer hochstehenden, zeitgenössischen Architektur zu erreichen, werden Bauprojekte nur nach einem langwierigen Verfahren bewilligt. “Die Identität des Dorfes hat Vorrang vor dem Willen des Bauherrn”, betont der Gemeindepräsident.

Dabei hat Fläsch keine rigiden Baunormen erarbeitet. Jedes Projekt wird einzeln geprüft. Und es steht immer die Frage im Vordergrund, ob das jeweilige Gebäude geeignet ist, sich in die vorgesehene Zone einzufügen.

Mittlerweile haben wir die Reben hinter uns gelassen und befinden uns wieder im Kern dieses Bündner Dorfes. Eine Katze streunt an einem alten Stall vorbei.

Diese zufällige Begegnung lenkt unsere Aufmerksamkeit auf einen anderen Aspekt, den der Heimatschutz gelobt hat: Die Aufwertung der alten Ställe im Ortsbild.

Rurale Vergangenheit

“Unter der Leitung von Professor Christian Wagner haben sich Studenten der Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW in Chur mit der Problematik der zahlreichen leerstehenden Ställe auseinandergesetzt, die nicht mehr verwendet werden, aber integrativer Bestandteil des Ortsbildes sind”, sagt Kunz.

Ziel war es, neue Nutzungsmöglichkeiten für die Ställe zu finden und die rurale Identität des Ortes beizubehalten. Das Haus Süsstrunk hat einen gangbaren Weg aufgezeigt: Architekt K. Hauenstein hat einen Stall mit viel Sorgfalt in ein Wohnhaus umgebaut.

Wir haben unseren Rundgang inzwischen abgeschlossen. Und befinden uns wieder am Dorfbrunnen, von dem wir aufgebrochen sind. Hier trafen sich die Einwohner einst, um sich Neuigkeiten aus dem Dorf zu erzählen.

Luca Beti, Fläsch, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Das Dorf Fläsch zählt 600 Einwohner und befindet sich auf der rechten Seite des Rheintals, gegenüber von Bad Ragaz und Sargans. Der Ort ist Teil der Bündner Herrschaft, die als Weinregion Graubündens bekannt ist.

Fläsch ist die nördlichste Gemeinde des Kantons Graubünden. Sie stösst an den Kanton St.Gallen und das Fürstentum Liechtenstein an.

Das Dorf zählt 22 Weinproduzenten, die Beachtung über die Landesgrenzen hinaus geniessen.

Der Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes verdankt sich dem Genfer Geschäftsmannes Henri-Louis Wakker (1875-1972).

Der Wakkerpreis zeichnet Gemeinden aus, welche bezüglich Ortsbild- und
Siedlungsentwicklung besondere Leistungen vorzeigen können. Er wird seit 1972 jährlich vergeben. Das Preisgeld hat mit 20’000 Franken eher symbolischen Charakter.

Die ersten Auszeichnungen gingen an Stein am Rhein (SH, 1972), Guarda (GR, 1975) und Ernen (VS, 1979)

In den 1970er-Jahren ging es vor allem darum, die Erhaltung historischer Zentren zu fördern, weil dies keineswegs selbstverständlich war. Im heutigen Fokus stehen Gemeinden, die ihren
Siedlungsraum unter zeitgenössischen Gesichtspunkten sorgfältig weiterentwickeln.

Fläsch ist nach Guarda (1975), Splügen (1995) und Vrin (1998) bereits die vierte Bündner Gemeinde, welche den Wakkerpreis erhält.

In den letzten Jahren wurden die Gemeinden Yverdon-les-Bains (2009), Grenchen (2008), Altdorf (2007) und Delémont (2006) ausgezeichnet.

Die offizielle Preisübergabe des Wakkerpreises 2010 an die Gemeinde Fläsch findet am 19. Juni 2010 im Rahmen einer öffentlichen Feier statt.

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