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Ein langer Schatten vom Ende her

Keystone

Der Schweizer Schriftsteller Hugo Loetscher hat sich vor allem als Romancier und Essayist einen Namen gemacht.

Nun hat der 1929 in Zürich geborene Loetscher sein umfangreiches Werk mit dem Gedichtband “Es war einmal die Welt” erweitert.

“Gesucht wird der Dichter”, schrieb er 1985 in “Der Immune”. Gesucht werde jener vagabundierende Geist, der stets ein anderer sei und sorglosen Umgang mit dem Menschlichen pflege. Dieser Geist hat neuerdings auch vom Essayisten und Romancier Hugo Loetscher entschieden Besitz ergriffen.

Der Dichter im Prosaisten

“Da hat es ein Autor bis über siebzig gebracht”, nimmt er in einer ‘Einleitung zu sich selbst’ unser Erstaunen vorweg, und nun “legt er auch noch Gedichte vor”. Als mildernden Grund führt er an, dass er sich fürs Schreiben in einem Alter entschieden habe, “in dem man nicht Schriftsteller wird, sondern Dichter”.

Wer den Homme de lettres Loetscher kennt, weiss, dass er nebst vielem auch die Lyrik der Welt gelesen hat. Freimütig zählt er eine Reihe von geschätzten Poeten auf: von Mallarmé, Benn über Kavafis und Montale bis Neruda. Als Spurenelemente finden sie sich alle aufgelöst in seinen eigenen Gedichten.

Zeugnis der Belesenheit

Rimbauds “Ich ist ein anderer” heisst bei ihm “Der Stellvertreter”. Er übt in der eigenen Haut Bewegungen, die er selbst nicht kennt: “Wo will der hin, der für mich lebt? Die Angst, die das Ich dabei empfindet, ist nicht, dass ihm das Leben abgenommen wird, vielmehr dass er in einem Papierkorb, anstatt einem Sarg endet.”

Loetschers Gedichte verbinden philosophische Reflexion mit poetischer Miniatur. Sie umgarnen Erfahrungen mit Bildern und Einsichten. Oder sie setzen luzide Akzente, deren Wirkung sich erst im Nachhall erschliesst. Letztere überzeugen stärker, weil sie ohne Netz und Wiederholung auskommen.

Figuren der Umkehrung

Dies gilt vorab für den Titelzyklus. Liebe und Leben unterliegen der Melancholie des Präteritums. Der Grabstein wirft einen langen Schatten. Doch noch besitzt das Ich die Kraft, die Beweislast trotzig umzukehren: “Ich bin ein Einzelfall / mit mir stirbt einer aus / zur Unzeit zeitig / Nicht ich / es ist die Welt / die geht.”

Das Memento mori war schon immer eine der nobelsten Aufgaben der Lyrik: “Ach! und weh!”, drängte es Andreas Gryphius zur Klage: “Ach vergeh!” Ein derart gesteigertes Pathos geht diesen Versen hier ab, an ihrem Grund aber klingt ein leises “Ade Welt” nach.

Das Leben, der Tod

Die Liebe, das Leben, der Tod, das Schreiben sind Loetschers Kernthemen. Als ein “Kartograph des Leeren” zeichnet er mit leichter Hand nach, wo er war und wohin es ihn tragen wird. Mag auch der eine oder andere kluge Einfall die poetische Ökonomie durchkreuzen, am Ende hat Loetscher etwas gefunden, das mehr ist als “weniger Nichts”.

Leise, durchaus auch humorige Melancholie ist in seine Gedichte eingewoben, und die beständige Skepsis dem eigenen Tun gegenüber. In “Herbst irgendwo” bringt er ein wunderbares, beinahe gespenstisches Bild des Dichtens, Schreibens zum Leuchten. Es gleicht dem windigen Totentanz: “der Wind macht vor, / wie einer verwirft, / womit er gespielt / Blatt um Blatt”.

swissinfo und Beat Mazenauer (sfd)

Hugo Loetscher wurde am 22. Dezember 1929 in Zürich geboren. Er studierte Politische Wissenschaften, Soziologie, Wirtschaftsgeschichte und Literatur.

1960 wurde sein Drama “Schichtwechsel” uraufgeführt. 1963 erschien sein erster Roman “Abwässer – ein Gutachten”. 1992 erhielt er den Grossen Schillerpreis.

1990 wurde er Präsident des Schweizerischen Schriftstellerverbandes. Hugo Loetscher ist Mitglied der “Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung”.

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