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Ein Leben zwischen Medizin und Solidarität

Der neue UICC-Präsident Franco Cavalli führt ein Leben zwischen Medizin, Solidarität, Politik und Familie. RDB

Der Schweizer Onkologe Franco Cavalli ist neuer Präsident der Internationalen Krebs-Union. Die Vereinigung traf sich am Freitag in Washington.

Für den 64-jährigen Direktor des Onkologischen Instituts der italienischen Schweiz bedeutet dieses Amt eine erneute und zusätzliche Herausforderung.

Franco Cavalli ist heute eine international anerkannte Kapazität in der Krebsforschung. Sein politisches Engagement hat ihm jedoch schon einige Unbill bereitet.

“Wenn Sie so weiter machen und die Revolution wollen, werden Sie bald rausgeworfen”, sagte ein Chefarzt in Bellinzona zu Cavalli, als er gerade mal 36 Jahre alt war und am Anfang seiner Karriere stand. Damals existierte nicht einmal eine Abteilung für Krebskranke im Tessin.

Tatsächlich hat Cavalli einiges an revolutionärer Tätigkeit hinter sich. Sein professionelles und persönliches Engagement ist von Idealismus gekennzeichnet, politisch ist der Nationalrat der Sozialdemokratischen Partei (SP) in der äusseren Linken zu Hause. Wir trafen ihn kurz vor seiner Abreise nach Washington in seinem Büro in Bellinzona.

swissinfo: Arzt, Politiker, Aktivist für die Dritte Welt und mehrfacher Familienvater: Wie bringen Sie dies alles unter einen Hut?

Franco Cavalli: Diese Frage wird mir oft gestellt. Und ich frage mich immer, aus welchem Grund. Sicherlich gibt es übervolle Tage, in denen extrem viele Dinge zu erledigen sind.

Aber generell habe ich überhaupt nicht das Gefühl, im Dauerstress zu leben. Natürlich muss ich meine Zeit gut einteilen und gut organisieren. Aber wichtig ist auch, vertrauensvoll delegieren zu können.

swissinfo: Was ist Ihre schwierigste Aufgabe?

F.C.: Diejenige des Vaters. In dieser Rolle stellen sich immer wieder neue Fragen. Wenn ich mich im Spiegel betrachte, frage ich mich, ob ich alles richtig gemacht habe, ob ich alle Möglichkeiten ausgelotet habe.

In der Politik kann man viele Fehler begehen, aber auch vergessen. Mit den Patienten braucht es ein Höchstmass an Aufmerksamkeit. Aber wenn es um die eigenen Kinder geht, ist die Verantwortung und Last besonders gross. Für mich ist die Familie fundamental. Sie ist die Heimat für das Gefühlsleben. Die Familie sagt dir, wo du zu Hause bist.

swissinfo: Das Tessin gilt heute als vorbildlich in der Krebsforschung und -bekämpfung. Wie ist dies möglich geworden? Das Tessin ist eine eher provinziell-ländliche Umgebung.

F.C.: Es braucht immer ein Bisschen Glück. Und es gab in der Tat eine Verkettung glücklicher Umstände. Dass es im Tessin keine Universität und insbesondere keine medizinische Fakultät gab, hat sich als Vorteil erwiesen.

Es ist kein Zufall, dass die beiden Zentren, die sich in den letzten 25 Jahren am stärksten in der Forschung nach Krebsbehandlungsmethoden entwickelt haben, in St. Gallen und im Tessin sind. Beide Standorte haben keine medizinische Fakultät.

Ich hatte ausserdem das Glück, hervorragende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu haben, die hier ideale Bedingungen für die Forschung vorfanden. Ansonsten wären sie wohl in die USA emigriert.

Von Anfang an habe ich daran gearbeitet, alle medizinischen Einrichtungen im Tessin in eine einzige Struktur zu integrieren, um eine kritische Masse zu schaffen.

Heute betreut der Onkologische Dienst der italienischen Schweiz ein Gebiet von 400’000 Einwohnern in der Schweiz. Dank unserer guten Kontakte mit Italien verfügen wir aber über ein “Hinterland” von mehreren Millionen Personen.

swissinfo: Wie beurteilen Sie die Schweizer Forschungspolitik?

F.C.: In der Schweiz wird sehr gute Forschung betrieben, vor allem im Labor. Da erreichen wir Ergebnisse von weltweiter Bedeutung. Die Schwachstelle ist eher die klinische Forschung.

Dies ist vor allem so, weil die medizinischen Fakultäten noch nicht gemerkt haben, dass sich die Welt verändert hat. Die Kader haben nicht verstanden, dass für die Forschung notwendigerweise neue Strukturen geschaffen werden müssen.

swissinfo: Ihr Engagement für Mittelamerika entspringt einem tiefen Idealismus. Wie ist dieser Solidaritätsgedanke bei Ihnen entstanden?

F.C.: In meiner politischen Entwicklungsgeschichte haben Vietnam und Algerien eine fundamentale Rolle gespielt. Mein Schicksal brachte mich 1985 nach Nicaragua, wo ich auf viel Not und Elend stiess.

Meine Idee ist es, die medizinische Hilfe auf die Aids-Bekämpfung auszuweiten und in die grossen Umwälzungen von Lateinamerika einzubringen. Wir haben deshalb Beziehungen mit Venezuela und Bolivien aufgenommen und intensivieren die Beziehungen zu Kuba.

swissinfo: Sagen Sie Ihren Patienten eigentlich immer die Wahrheit?

F.C.: Sagen wir es so: Ich versuche, keine Lügen zu erzählen. Das ist nicht dasselbe, wie immer die Wahrheit zu sagen. Niemals verheimliche ich gegenüber einem Patienten die Präsenz eines Tumors. Geht es aber um die Lebenserwartung, muss man diplomatisch sein. Beträgt die Lebenserwartung noch einen Monat, so kann man etwas diplomatischer sagen, dass es keine sechs Monate mehr sind.

Lügen sollte man nicht. Denn Lügen destabilisieren die Beziehung zwischen Arzt und Patient. Aber man sollte die Erkenntnisse auch nicht wie ein Roboter ausspucken, wie es oft in den USA geschieht. Da arbeiten die Ärzte eher zur eigenen Gewissensberuhigung als zum Wohl des Patienten.

Am besten überlässt man dem Patienten die Möglichkeit, das eigene Wahrheitsbedürfnis auszuleben. Als Arzt muss man immer bereit sein, die richtigen Antworten zu geben.

swissinfo, Françoise Gehring
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Franco Cavalli wird 1942 in Locarno geboren.

Ausbildung in innerer Medizin und Onkologie in Bern, Mailand, Brüssel und London; Autor von mehr als 400 Fachartikeln und vier Büchern.

Seit 1978 Chefarzt für Onkologie am Spital San Giovanni in Bellinzona.

Seit 1981 organisiert Cavalli in Lugano alle drei Jahre den Weltkongress über Maligne Lymphome.

Seit 2003 Direktor des Onkologischen Instituts der italienischen Schweiz (IOSI).

Franco Cavalli ist in zahlreichen sozialen Projekten engagiert, insbesondere in Zentralamerika.

Als Vater von sieben Kindern teilt er sein Leben zwischen Arbeit, Familie und Politik auf. 1995 wurde er auf der Liste der Sozialdemokratischen Partei (SP) in den Nationalrat, die grosse Kammer des Schweizer Parlamentes, gewählt. Zeitweise war er SP-Fraktionschef.

Seit dem 7. Juli 2006 präsidiert er die Internationale Krebsunion (UICC), die weltweit 270 Organisationen in 80 Ländern vertritt.

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