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Eine Epidemie bringt immer auch Angst

Unter falschem Verdacht: Millionen Tonnen von Gurken sind in ganz Europa vernichtet worden. Keystone

Die EHEC-Epidemie, die nach neusten Erkenntnissen durch Sprossen ausgelöst worden sein soll, hat bei den Konsumenten Panik ausgelöst. Voreilige und verwirrliche Informationen hatten die Ängste zusätzlich gefördert. Eine Analyse des Medizinhistorikers Vincent Barras.

Die deutschen Gesundheitsbehörden gehen seit Freitag davon aus, dass Sprossen die Ursache für die EHEC-Erkrankungen sind. Die Warnung vor dem Verzehr von Tomaten, Gurken und Blattsalaten wurde aufgehoben.
 
Bohnen-Sprossen seien definitiv als Ursache für die EHEC-Erkrankungen
festgestellt worden, teilten das Robert-Koch-Institut (RKI), das 
Bundesamt für Verbraucherschutz und das Bundesamt für Risikobewertung in Berlin mit.
 
Ein Nachweis des Darmkeims auf Sprossen sei zwar nicht gelungen. Es sei durch Überprüfung der Lieferwege aber möglich gewesen, die Sprossen als Quelle einzugrenzen.

Als erste war die spanische “Bio”-Gurke auf der Anklagebank. Obschon von allem Verdacht befreit, wollten sie die Konsumenten nicht mehr essen. Das gekrümmte Gemüse wurde auf dem Altar der Angst geopfert. Bei Salaten, Tomaten und Sprossen kam es für die Produzenten zu Einbussen in Millionenhöhe. 

Der gefährliche Erreger, der in Deutschland umgeht hat bei den Verbrauchern Panik ausgelöst. In der Geschichte der Epidemien jedoch kommen solche Episoden öfters vor.

Und, laut dem Lausanner Professor der Geschichte für Medizin und öffentliche Gesundheit, Vincent Barras, werden solche Epidemien künftig noch zunehmen. In unserer überinformierten Gesellschaft bestehe die Herausforderung darin, angemessen zu informieren.  

swissinfo.ch: Gibt es Vorläufer zur laufenden EHEC-Krise in Deutschland?

Vincent Barras: In der Geschichte der Epidemien sind solche Episoden häufig. Es genügt, die Cholera zu erwähnen, die regelmässig zuschlägt. Im Fall der E.Coli-Bakterien ist der Krankheitseffekt seit langem bekannt (Anm. der Red.: Vor 30 Jahren kam es in den USA zu einer Häufung der Fälle, weil nicht richtig durchgebratenes Hamburgerfleisch konsumiert wurde). 

Das Neue am heutigen EHEC-Bakterium ist, dass es unerwartet auftrat. Man rechnete nicht mit einer von Todesfällen begleiteten Epidemie in Deutschland.

Dasselbe kann sich morgen anderswo ereignen, mit einem anderen Bakterium. Das wäre keine Überraschung, denn es wimmelt nur so von Bakterien auf dieser Welt. Und viele davon können dem Menschen Schaden zufügen. Obschon Bakterien an sich für ein Gleichgewicht auch nötig sind.

swissinfo.ch: Die Konsumenten waren in jüngster Vergangenheit mit verschiedenen Epidemien konfrontiert. Werden solche künftig vermehrt auftreten?

V.B.: Heute ist man besser informiert, und über die Infektionen wird vermehrt berichtet. Diese Art von Risiko wird künftig wohl zunehmen, denn der Handel mit Nahrungsmitteln und deren globale Verbreitung sind gegenüber vor 50 Jahren stark gewachsen.

Seit einem Jahrhundert gibt es Hygienegesetze. Sie funktionieren nicht schlecht angesichts der enormen Mengen an gehandelten Nahrungsmitteln. Aber die Gesetze und die Schutzbestimmungen sind immer verbesserbar, können aber auch umgangen werden.

Deshalb sind solche Epidemien nicht zu vermeiden, ausser man eliminiert alle Bakterien dieser Welt. Doch geht das nicht, weil wir sie ja auch benötigen.  

swissinfo.ch: Die Konsumenten reagieren in solchen Fällen immer mit Boykotten. Wie verstehen Sie diese Reflexhandlungen?

V.B.: Angesichts der Schnelligkeit, mit der die Information läuft, ist der Boykott ein Reflex, eine verständliche Folgehandlung. Ich finde diese Art von schneller Reaktion ein an sich gesundes Verhalten. Es zeigt auch einen gewissen Einfluss der Bevölkerung auf. 

swissinfo.ch: Dennoch hat diese Reaktion bei den Produzenten wirtschaftlich geschadet. Wie soll man hier kommunizieren?

V.B.: In einer Gesellschaft, in der Informationen unglaublich schnell fliessen, verbreiten sich auch unbestätigte Gerüchte sofort, was zu enormen Schäden führen kann. Eigentlich bräuchte es eine politische Debatte über den Umgang mit solchen Informationen, mit dem Ziel, Panikreaktionen zu vermeiden.   

Panik-Verhalten mag zwar dem gesunden Menschenverstand entspringen, ist aber kein guter Ratgeber. Die heutigen Informations-Systeme jedoch stellen ein reales Problem dar.   

Das wurde auch zu Beginn der Aids-Epidemie ersichtlich. Falsche Gerüchte und gesellschaftliche Stigmatisierungen gewisser Gruppen von Menschen haben zu einem äusserst schädlichen Klima geführt. Und dies, weil die Informationen unangemessen waren und teils zu Panikreaktionen geführt haben.

swissinfo.ch: Die deutschen Behörden haben sehr schnell einem ausländischen Erzeugnis wie der spanischen Gurke die Schuld zugeschoben. Wie interpretieren Sie das?

V.B.: Diese Reflexhandlung hat System, wenn Epidemien aufkommen. Sie setzt voraus, dass Epidemien immer von aussen kommen. Zum Beispiel die Spanische Grippe, die vor bald einem Jahrhundert 50 bis 100 Mio. Tote gefordert hatte. Sie wurde die Spanische genannt, weil Spanien das einzige Land war, das seine Grippekranken als solche deklarierte. Das kam natürlich Ländern wie Frankreich oder Deutschland sehr gelegen.  

  

Den anderen zu beschuldigen, ist ein uralter Reflex, egal ob dieser aus einer stigmatisierten Gruppe oder aus dem Ausland kommt. Und so sind ja auch Bakterien eine Art feindliche Armee, die eine Invasion plant.

Eindringlinge kommen automatisch von aussen, deshalb muss man sie stigmatisieren. Dazu gehört auch die spanische Gurke, und zwar bevor man sich überhaupt die Zeit nimmt zu überprüfen, ob sie wirklich der Ursprung der Erkrankungswelle ist.

swissinfo.ch: Wird diese Epidemie die Nahrungsgewohnheiten der Leute verändern?

V.B.: Heutzutage kann sich das Ernährungsverhalten ohnehin sehr schnell ändern, da viele neue Produkte eingeführt werden. Es mag sein, dass diese Epidemie Impulse gibt, beispielsweise in der Haltung gegenüber industriell angebautem Gemüse.

Die Weltgesundheits-Organisation hat das Bakterium als seltene Form der Escherichia coli, 0104:H4, identifiziert. EHEC führt zu Darminfektionen, die tödlich sein können.

Infektionsquelle: Die deutschen Gesundheitsbehörden gehen nach neusten Erkenntnissen davon aus, dass Sprossen die Ursache für die EHEC-Erkrankungen sind.

EHEC-Bakterien werden durch Hitze vernichtet: Die Temperatur muss 70 Grad im Innern des Gemüses betragen und während mindestens zwei Minuten aufrecht erhalten werden.

Ursprünglich findet sich EHEC im Darm und in den Ausscheidungen von Rindern und weiteren Wiederkäuern.

Auf den Menschen übertragen wird es durch rohes oder ungenügend erhitztes Fleisch, rohes Gemüse oder Früchte und Produkte aus Rohmilch.

Auch verschmutztes Wasser kann EHEC übertragen. 

Die Infektion löst 3 oder 4 Tage nach der Übertragung Durchfall und starke Bauchkrämpfe aus.

In 10 bis 20% der Fälle kommt es zu einer schweren Form der Erkrankung. Das Gift der EHEC-Bakterien zerstört die Zellen der Darmwände und Blutgefässe.

Antibiotika sind zur Behandlung wenig wirksam, weil die Bakterien schnell Resistenzen entwickeln.  

Quellen: sda, BAG

In Deutschland ist die Zahl der Todesfälle laut den Gesundheitsbehörden bis Donnerstag auf insgesamt 29 gestiegen.

Ein Todesfall wurde In Schweden registriert.

In ihrer schweren Form wird eine EHEC-Infektion zu einem lebensgefährlichen
hämolytisch-urämischen Syndrom (HUS). Über 670 HUS-Fälle wurden registriert und über 1700 Ansteckungen, meist in Deutschland.

Laut der Weltgesundheits-Organisation WHO haben bereits 12 Länder EHEC-Ansteckungen registriert, darunter die Schweiz mit 5 Fällen.

(Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle)

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