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Hinter den Kulissen der Pornoindustrie

Gert Jochems / Agence VU

Der Erfolg von Gratisinternetseiten und Amateurvideos hat die Pornoindustrie erschüttert, in der Schweiz und anderswo. Während einige Darstellerinnen versuchen, in die Pornokinos zu kommen, müssen die Profis des Sektors neue Absatzmärkte finden.

Nehmen wir eine Frau, blond, braun- oder rothaarig, egal. Sie lacht, stöhnt, schreit. Ein Mann penetriert sie von vorne, von hinten. Die Videokamera filmt die Szene bis ins kleinste Detail. Die Szene wird wiederholt. Keine Handlung, kein Drehbuch, nur ein Ziel: mit diesem Sexualakt in seiner ganzen Härte und Künstlichkeit den Zuschauer erregen, aufreizen.

Mit solchen Szenen werden heute die Pornovideos produziert, von denen täglich Hunderttausende zum Mehrverbrauch abgesetzt werden. Die Pornoindustrie war noch nie so blühend und derart ausser Kontrolle wie in den letzten Jahren. Internetseiten wie Xvideos, Xhamster und Youporn gehören zu den weltweit meist angeklickten Sites und bieten jegliches Material an. Gratis, leicht zugänglich und konsumierbar sind sie die Frucht der Entwicklung des Web und einer Gesellschaft, die alles sofort will.

Während die Offerten im Internet sich in voller Ausbreitung befinden, angestachelt durch die Do-it-yourself-Produktion, liegt die traditionelle Pornoindustrie in den letzten Zügen. Die nach den Regeln der Kunst produzierten Filme werden immer seltener.

Eine Entwicklung, die jene, welche im Pornofilm-Sektor in der Schweiz arbeiten oder ganz einfach die Notwendigkeit einer künstlerischeren Pornografie verteidigen, dazu gezwungen hat, neue Absatzmärkte zu finden. Das trifft auch auf Sabine Fischer und Sandra Lichtenstern zu.

Die beiden in Zürich in Kunst und Design diplomierten 30-jährigen Frauen haben begonnen, quasi als Spiel pornografische Filme zu produzieren, ausgehend von den alten Streifen der 70er-Jahre. “Wir suchen uns die flirtreichsten, amüsantesten, sogar schmalzigsten Szenen aus, schneiden sie und setzen sie zu einem neuen künstlerischen Produkt zusammen”, sagt Sandra Lichtenstern gegenüber swissinfo.ch. “Wir sind überzeugt, dass die Pornografie die Unterstützung von Künstlerinnen und Künstlern braucht, damit sie sich nicht zu einem Produkt für Sexbesessene entwickelt und sich von diesem schlampigen Mittelmass distanziert.”

Das im Sommer 2009 von den beiden Frauen lancierte Projekt hat unerwarteten Erfolg gehabt: In wenigen Monaten wurden Tausende von Kopien verkauft, ohne jegliche Werbung dafür, lediglich mit Hilfe von Mund-zu-Mund-Propaganda. Das Publikum: hauptsächlich Paare.

Grosse Rotlichtmilieu-Komödien

Die Wahl, sich auf die 70er-Jahre zu konzentrieren, haben Sandra Lichtenstern und Sabine Fischer nicht zufällig getroffen.

“Dazumal gab es noch keine digitalen Videokameras. Um einen pornografischen Film zu drehen, brauchte man Zeit, Geld und eine gute Filmtechnik”, erklärt Sandra. “Die Inszenierung wurde bis ins kleinste Detail gepflegt, und oft begannen die Filme mit einer erotischen Szene, in der man ein nacktes Bein oder einen entblössten Busen ahnen konnte. Nichts von den stereotypen Personen, die man heute sieht, die wie Puppen erscheinen, die mit Stretching-Übungen beschäftigt sind. Grundlage des Films waren immer eine Handlung, ein Zeitrahmen und präzise Dialoge. Es war die Epoche der grossen Komödien, die Platz hatten für Humor und Emotionen.”

Die ersten pornografischen Filme entstanden in den 20er-Jahren, aber erst in den 70er-Jahren gelang es ihnen, aus der Klandestinität aufzutauchen, im Zuge der sexuellen Revolution. In den öffentlichen Kinos werden erstmals solche Filme gezeigt. Sie stossen bei der Nach-68er-Gesellschaft auf einen Mix aus Neugier und Enthusiasmus.

“In der damaligen Presse wurde von einem neuen Filmstil gesprochen, der Hollywood erobern wolle”, erklärt der französische Philosoph Julien Servois, der in einem Aufsatz die Geschichte des Pornofilms aufgezeichnet hat. “Als der Film Deep Throat von Gerard Damiano 1972 erschien, war das ein derart grosses Ereignis, dass sogar Ex-US-Präsidentengattin Jackie Kennedy ihn in einem New Yorker Kino anschaute.”

Zu dieser Zeit sei es scheinbar noch möglich gewesen, “dass die Pornografie als Teil des sozialen Lebens akzeptiert werden und sich zu einem eigentlichen Filmgenre entwickeln könnte, wie der Western oder das Musical”, so Julien Servois.

Diese libertäre Phase war allerdings nur kurzlebig. In den USA wie auch in Europa hat die Zensur den Pornofilm sehr schnell in Spezialkinos verbannt und daraus ein ausschliesslich für Männer bestimmtes Produkt gemacht. In der Schweiz wurden die gewagtesten Szenen herausgeschnitten oder je nach Sensibilität der einzelnen Kantone zusammengeflickt. Oft gab es polizeiliche Durchsuchungen der Pornofilm-Kinosäle.

Die goldenen Jahre der Schweizer Pornoindustrie

Ein bekanntes Gesicht der Zürcher Punkszene, Peter Preissle, begann 1979 in der pornografischen Industrie zu arbeiten und hat alle Etappen selbst erlebt, die den Pornofilm aus der Untergrundszene herausholten und zu einem Massenkonsumprodukt machten. Als Eintrittskartenverkäufer, dann als Filmvorführer wurde Preissle mit der Zeit zum rechten Arm von Edi Stöckli, der fast alle Pornokinos in der Schweiz besitzt und die grösste Produktions- und Verleihfirma fürs Rotlichtmilieu, die Mascotte Film AG, gegründet hat.

swissinfo.ch trifft Peter Preissle im Hauptsitz des Unternehmens, in einem gottverlassenen Gässchen im Rotlichtquartier in Zürich. “Früher verdienten wir viel Geld mit wenig Anstrengung, heute müssen wir dreimal so viel arbeiten, um gleich viel wie damals zu verdienen. Die Konkurrenz ist unerbittlich, und die Industrie ist zu einem Geschäft für alte Einfaltspinsel geworden”, sagt er. “Wir müssen uns den sich ändernden Zeiten anpassen, vielleicht mehr Kurzfilme oder Episodenfilme produzieren angesichts der Tatsache, dass die jungen Leute heute nicht mehr gewohnt sind, länger als eine halbe Stunde sitzen zu bleiben”, so Preissle.

Zu den goldenen Zeiten produzierte die Mascotte Film AG bis zu 240 Filme im Jahr, heute kaum deren 120. “Als es noch die 35-Milimeter-Filme gab, kostete die Produktion eines Filmes bis zu 200’000 Franken, heute zwischen 40 und 50’000 Franken. Die Aufnahmen dauern ein paar Tage: gleicher Kameramann, gleiches Licht, gleiches Szenario, gleiches Cast. Wie bei einem Fussballmatch. Es ist jedoch immer schwieriger, schöne Filme zur Projektion in Kinosälen und junge Schauspieler zu finden, die bereit sind, sich wirklich gut in Szene zu setzen”, sagt Preissle.

Im Gebäude des Unternehmens sind mindestens 3000 Filmstreifen archiviert. Sie werden in Spezialsälen gezeigt, in Form von DVDs verkauft oder auf den Internetseiten der Gruppe zur Verfügung gestellt. Hier haben Sandra und Sabine das Material für ihre Recherchen gesucht: in den Regalen der Familie Stöckli, die mehr als 50 Jahre Geschichte des Pornofilms umfassen.

Kino und Galerien, Begegnungs- und Austauschorte

Um der Konkurrenz im Internet zu begegnen, musste auch die Familie Stöckli versuchen, ihre Marktstrategie zu eneuern. “Heute wird man mit Porno nicht mehr reich, doch ist die Industrie noch nicht ganz am Ende”, erklärt Peter Preissle, der den Wert des Unternehmens nicht enthüllen will. Er wird auf mehrere Millionen Franken geschätzt.

Die zehn Pornokinos in der Schweiz sind in Begegnungs- und Austauschorte umgestaltet worden, dies auch dank dem Aufkommen der Privatkabinen. Einzel, Doppel- oder miteinander verbundene Kabinen garantieren eine grössere Intimsphäre und die Gelegenheit, für ein paar Franken Videos anzuschauen. Regelmässig werden auch erotische Kunstausstellungen und Begegnungen mit Pornostars organisiert, um diese “menschlicher” und publikumsnah zu machen.

“Wie die Standart-Kinos haben auch die Pornokinosäle einen Publikumsrückgang verzeichnet. Dennoch behalten sie ihre Faszination. Sie erlauben es den Leuten – im Gegensatz zum Internet – , anonym zu bleiben und die Vision eines Filmes in ein spezielles Ereignis zu verwandeln”, betont Preissle.

Während sich im Internet die Chats und selbstgemachten Videos vermehren, bleibt der Pornoindustrie nichts anderes übrig, als auf ein bisschen mehr Qualität, auf Charme und eine gute Dosis Mysterium zu setzen – ein Trumpf, dessen sich die hausgemachten Produktionen noch nicht rühmen können.  Das ist vielleicht die einzige Waffe, die der Pornoindustrie zum Überleben bleibt.

Die Pornoindustrie, die weltweit zu den undurchsichtigsten Sektoren zählt, wird oft mit dem Organisierten Verbrechen, mit Menschenhandel und Geldwäscherei in Zusammenhang gebracht.

Die Einnahmen dieser Industrie sind schwer kalkulierbar. Aber nach einer Schätzung des britischen Wochenmagazins The Economist übertrafen sie 2008 die Einnahmen der Film- und Musikindustrie um 20 Milliarden US-Dollar.

Die unkontrollierte Verbreitung von pornografischem Material im Internet hat in den letzten Jahren mehrere Fragen hervorgerufen im Zusammenhang mit dem Kinder- und Jugendschutz und mit dem Risiko, ein abwegiges Bild der Sexualität zu vermitteln.

Erziehungsbehörden und Ärzte haben vermehrt Sensibilisierungsaktionen in diese Richtung unternommen. Dennoch setzen sich mehrere Schweizer Kantone gegen die Idee eines neuen Schulhandbuches über eine offenere und ausdrücklichere Sexualerziehung zur Wehr.

Bei den Erwachsenen wurden auch schon Fälle von Pornografie-Sucht aufgezeigt. Das Universitätsspital in Genf hat ein Sonderzentrum für derartige Fälle eingerichtet.

Das Strafgesetz in der Schweiz verbietet Konsum und Produktion von Pornografie nicht. Ab dem Alter von 16 Jahren ist es erlaubt, Bilder und Videos expliziten Inhalts anzuschauen und herunterzuladen.

Pornofilme dürfen nur in speziellen Kinosälen – zehn in der Schweiz – gezeigt werden.

Artikel 197 des Strafgesetzes verbietet jedoch Produktion, Konsum und Verbreitung von sogenannter harter Pornografie.

Dabei werden vier Kategorien erwähnt:

Pädopornografie, gewalttätige Pornografie, sexuelle Handlungen zwischen Menschen und Tieren und pornografische Handlungen im Zusammenhang mit menschlichen Exkrementen.

Der Koordinationsdienst zur Bekämpfung der Kriminalität im Internet hat 2011 1206 Hinweise auf mutmassliche Fälle von harter Pornografie erhalten. Bei 90% davon ging es um Kinderpornografie.

Gemäss UNO-Zahlen werden weltweit jährlich über 20 Milliarden US-Dollar für Pädopornografie und Kinderprostitution ausgegeben.

(Übertragung aus dem Italienischen: Jean-Michel Berthoud)

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