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Einsatz für friedliche und pluralistische Gesellschaft

Luzius Wildhaber bei seiner Rede vor dem Schweizer Parlament. Keystone

Luzius Wildhaber ist der Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Zum 40-jährigen Jubiläum der Schweiz im Europarat sprach er vergangene Woche vor dem Parlament in Bern.

swissinfo unterhielt sich mit dem Schweizer über seine Arbeit.

Luzius Wildhaber ist seit 1991 am Gerichtshof für Menschenrechte im französischen Strassburg. 1998 wurde er zum Präsidenten gewählt.

Das Gericht habe seit seiner Gründung 1959 eine wichtige Rolle bei der Ausgestaltung der Menschenrechts-Politik in seinen Mitgliedsländern gespielt, betont er im Gespräch mit swissinfo.

swissinfo: Worin sehen Sie den Erfolg des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte?

Luzius Wildhaber: Dank ihm wurden die Menschenrechte in vielen Staaten des Europarates Realität. Das erreichte der Gerichtshof, indem er jene Mitgliedsländer zu erreichen suchte, in denen der Schutz der Menschenrechte noch nicht zementiert war.

In gewisser Weise wurde er zu einem Europäischen Verfassungsgericht. So versucht er, Standards in ganz Europa durchzusetzen. Bei Demokratie, Autorität des Gesetzes und Menschenrechten geht es vor allem um die Vermeidung von Konflikten.

Die Arbeit des Gerichtshofs ist eine ausgezeichnete Möglichkeit zur Wahrung einer friedlichen, pluralistischen und offenen Gesellschaft.

Damit kann man die Haltung gegenüber internen und internationalen Konflikten sowie deren Perspektiven verändern.

swissinfo: Letztes Jahr registrierte das Gericht rund 38’000 Fälle. Wie beschliessen Sie, welche Fälle behandelt werden?

LW: Der Auswahlprozess ist eine sehr aufwändige Arbeit. Wir erklärten 92% dieser Fälle als unzulässig, weil die Anträge zu spät eintrafen oder Fakten betrafen, die vor der Ratifizierung der Konvention durch das betreffende Land bestanden, oder weil eine Klage eindeutig unbegründet war.

Des Weiteren schauen wir, ob der Fall schon von einem inländischen Gericht behandelt wurde. Dies nennt man die Ausschöpfung der Inlandmittel. Die Vielfalt der vorgetragenen Fälle ist enorm.

Die Klagen reichen von einer Beschwerde eines Journalisten gegen eine ihm auferlegte Busse bis zum Einklagen des Rechts auf Respektierung des Familienlebens, weil eine Person die Kinder nach der Scheidung nicht mehr sehen kann.

Es gibt Zivilklagen und solche über ungerechte Verfahren in Straffällen, bei denen der Zugang zu den Gerichten nicht gewährt wurde.

swissinfo: Wie steht es in der Schweiz mit den Menschenrechten?

LW: Die meisten Staaten West- und Mitteleuropas stehen recht gut da, und trotzdem gibt es keinen Staat, gegen den noch nie Klage eingereicht wurde. Ich wäre auch sehr besorgt, wenn es noch nie eine Klage gegen die Schweiz gegeben hätte.

Denn dies würde bedeuten, dass die Leute nicht informiert wären über die Möglichkeit, an unser Gericht zu gelangen, oder dass die Regierung sie aktiv davon abhielte.

swissinfo: Welche Länder bereiten dem Gerichtshof gegenwärtig am meisten Sorgen?

L.W.: Nun, es gibt da zwei Statistiken. Die meisten Fällen gab es in Russland, der Türkei, Polen, Rumänien, der Ukraine, Frankreich, Italien und Deutschland – in dieser Reihenfolge.

Man kann aber auch die Anzahl Fälle nehmen und sie mit der Gesamtbevölkerung eines Landes in einen Zusammenhang stellen.

Und dann wird klar, dass Zentraleuropa an der Spitze der Liste steht. Letztes Jahr waren es Kroatien, Slowenien, die Slowakei und Bulgarien.

swissinfo: Warum haben Sie sich überhaupt entschlossen, sich mit den Menschenrechten zu befassen?

L.W.: Ich wurde vor dem Zweiten Weltkrieg geboren, und das hatte natürlich einen Einfluss auf mein Denken.

An der Universität besuchte ich vermutlich das erste Seminar über den weltweiten Schutz der Menschenrechte im internationalen Recht: Ich hörte 1964 an der Rechtsfakultät von Yale eine Vorlesung von Egon Schwelb, der später Ton angebend war beim Aufbau der Menschenrechts-Instrumente der UNO.

Danach kehrte ich in die Schweiz zurück und war 1968 an der Verfassung der Regierungsberichte über die Europäische Menschenrechtskonvention beteiligt.

Zu Beginn meiner akademischen Karriere gab ich auch Vorlesungen darüber, ob die Konvention in den Rang einer Verfassung erhoben werden sollte.

swissinfo: Wenn Sie auf Ihre Zeit am Gerichtshof zurückschauen – für welche Errungenschaften möchten Sie, dass man Sie im Gedächtnis behält? Und was kommt danach?

L.W.: Es würde mich freuen, wenn man mich in Erinnerung behält, weil ich eine konsequente Sammlung von Menschenrechts-Gesetzen aufgebaut habe, die Eingang in möglichst viele inländische Gesetze gefunden haben.

Im Moment will ich einfach meine Arbeit gut machen. Nachher werden wir weiter sehen.

Ich glaube nicht, dass ich wieder als Professor in der Schweiz arbeiten werde. Wenn man mich bittet, Vorlesungen zu halten, möchte ich eher nach Zentral- oder Osteuropa gehen, wo meine Hilfe viel nötiger ist als hier.

Aber vielleicht bekomme ich Sonderaufträge – das ist sehr gut möglich nach meinem Rücktritt.

Ich möchte auch über mein Leben und über die Geschichte des Gerichtshofs schreiben, damit wäre ich sehr beschäftigt.

swissinfo-Interview, Jonathan Summerton
(Übertragung aus dem Englischen: Charlotte Egger)

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