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Entschädigungs-Pool für Überlinger-Opfer

In den Trümmern der russischen Tupolew in der Nähe von Überlingen fanden 69 Menschen den Tod. Keystone

Die Schweiz, Deutschland und die Flugsicherung skyguide haben einen Entschädigungs-Pool für die Opfer des Flugunfalls von Überlingen gebildet.

Die Hinterbliebenen sollen damit aussergerichtlich, rasch und unbürokratisch entschädigt werden. Über die Höhe der Gelder gibt es keine Angaben.

Knapp ein Jahr nach der Flugzeug-Katastrophe vom Bodensee haben die Schweizer Flugsicherung skyguide, Deutschland und die Schweiz eine Vereinbarung für einen Entschädigungsfonds unterzeichnet.

skyguide-Anwalt Alexander von Ziegler: “Damit ist ein Grundstein für eine Gesamt-Entschädigungslösung gelegt.”

Über die Höhe wurden keine Angaben gemacht. “Um die Verhandlungen nicht zu gefährden, dürfen wir die Summe nicht nennen”, sagte Daniel Eckmann, Sprecher des EidgenössischenFinanzdepartements (EFD).

Hinterbliebenen-Anwälte unzufrieden

Der Berliner Anwalt Michael Witti vertritt 40 Hinterbliebene. “Wir halten an unserer Forderung von 1,5 Mio. Euro (2,3 Mio. Franken) pro Sitzplatz fest”, sagte er gegenüber swissinfo.

Mit dem Pool wollen sich die Beteiligten freikaufen, erklärt Witti. Den Pool als Lösung zu bezeichnen, hält er für “sehr mutig”. Die Hinterbliebenen würden nicht angemessen entschädigt.

Laut Wittis Angaben liegt die Gesamtsumme des Fonds bei rund 50 Millionen US-Dollar (67,6 Mio. Fr.). Je 10 Millionen bezahlten die Schweiz und Deutschland, den Rest Skyguide. Dies sei eindeutig zu wenig.

Doppelt so hohe Forderung

Die Hinterbliebenen-Anwälte fordern insgesamt 105 Millionen Dollar. Hinzu kommen die Forderungen der beiden betroffenen Fluggesellschaften DHL und Bashkirian Airlines. Insgesamt belaufen sich die Forderungen auf rund 150 Millionen Dollar.

“Wir wollen nicht mehr, als Hinterbliebene vergleichbarer Katastrophen erhalten haben”, sagt Witti. Er verweist auf die Entschädigungszahlungen nach dem Concorde-Absturz vom Juli 2000 in Paris mit 113 Toten. Die Opfer wurden mit 173 Mio. Euro (rund 267 Mio. Fr.) entschädigt.

Verhandlungen weiterhin möglich

Für Witti ist die Türe zu Verhandlungen nicht geschlossen: Vorbedingung sei ein höheres Angebot. Die Anwälte schliessen aber auch den Klageweg nicht aus. Sie hätten deswegen in der Schweiz vor rund drei Wochen ein Vorverfahren gegen Skyguide und den Bund eingeleitet, sagte Witti der sda weiter.

Die Klagen in den USA dagegen sind vom Tisch. Die Hinterbliebenenanwälte hatten im November vergangenen Jahres damit gedroht.

Keine offiziellen Zahlen

Nach einer Meldung der “Stuttgarter Nachrichten” vom Donnerstagabend beteiligen sich die Schweiz und Deutschland mit je 10 Mio. Dollar (13,5 Mio. Franken) am Entschädigungsfonds. Angaben über die Höhe der Beteiligung von skyguide – respektive deren Versicherung – wurden keine gemacht.

Die Zeitung beruft sich auf ein Papier des deutschen Verkehrsministeriums. In diesem beantragt das Ministerium dem Haushaltsausschuss des deutschen Bundestags, die Summe von 10 Mio. Dollar freizugeben.

Unbürokratische Lösung angestrebt

Gemäss einer Mittelung des EFD wurden die Schweizer Mittel bereits von der Finanzdelegation der Eidgenössischen Räte bewilligt. Mit dem Pool sei der Grundstein für eine “rasche und faire Lösung” gelegt, heisst es weiter.

Als nächster Schritt sollen nun Verhandlungen mit den Hinterbliebenen der Opfer und weiteren Geschädigten aufgenommen werden. Dies mit dem Ziel, sie “angemessen und unbürokratisch” zu entschädigen, schreibt skyguide. Skyguide hat nach EFD-Angaben die Führung des Entschädigungs-Pools.

Wer beteiligt sich noch?

Am 1. Juli 2002 waren über dem Bodensee eine Maschine der Frachtgesellschaft DHL und eine Passagiermaschine der Bashkirian Airlines in 11’000 Metern Höhe zusammengestossen. Dabei starben 71 Menschen, darunter 47 Kinder.

Sollte den Piloten noch eine Mitschuld an der Kollision nachgewiesen werden, sollen auch die beiden Fluggesellschaften in den Fonds einzahlen. Die beiden Gesellschaften und deren Versicherer seien dem Pool noch nicht beigetreten. Es würden jedoch deren Zusagen erwartet, schreibt skyguide weiter.

Abschlagszahlungen für die Hinterbliebenen der Toten aus Baschkirien, die zum Jahrestag an den Bodensee kommen, werde es nicht geben.

Die Hinterbliebenen bekommen bei ihrem Besuch an der Absturzstelle in Überlingen auch keine erschöpfende Antwort, was sich in der Nacht zum 2. Juli 2002 genau zugetragen hat.

Kollisionsursache noch nicht restlos geklärt

Die genaue Ursache der Katastrophe ist noch unklar. Die Ermittlungen der deutschen Staatsanwaltschaft konzentrieren sich weiter auf die Schweizer Flugsicherung skyguide. Der Bericht der deutschen Bundesstelle für Flugunfall-Untersuchungen soll frühestens Ende September vorgelegt werden.

Nach den bisherigen BFU-Ermittlungen hatte der Fluglotse in der Unglücksnacht auf Grund von Wartungsarbeiten im Tower von Zürich mit massiven technischen Problemen zu kämpfen.

Der Schweizer Untersuchungsrichter Bernhard Hecht hat zwar eine Strafuntersuchung eröffnet, wartet jedoch auch auf die Untersuchungs-Ergebnisse aus Deutschland und der Schweiz.

Zwischen der Schweiz und Deutschland gibt es keinen Staatsvertrag, der die Haftungsfrage regeln würde.

swissinfo und Agenturen

Chronologie der Katastrophe, erstellt durch die deutsche Bundesstelle für Flugunfall-Untersuchung:

Bis 23:30 Uhr: Eine russische Tupolew-154 mit 69 Menschen an Bord von Moskau nach Barcelona über Süddeutschland. Aus Süden nähert sich eine nach Brüssel fliegende Boeing 757 des Kurierdienstes DHL.

23.21 Uhr die Boeing meldet bei den Schweizer Fluglotsen im Tower Zürich an.

23:30 Uhr: Die Besatzung der Tupolew meldet sich bei den Schweizer Fluglotsen an.

23:34:42 Uhr: Die automatischen Kollisionswarnsysteme (TCAS) in beiden Maschinen schlagen Alarm.

23:34:49 Uhr: Der Fluglotse fordert den Piloten der Tupolew auf, seine Flughöhe zu verringern, da er sich auf Kollisionskurs mit der Boeing befindet.

23:34:56 Uhr: Das TCAS der Boeing erteilt Kommando zum Sinkflug, was die Besatzung sofort befolgt. Zeitgleich leiten die Piloten der Tupolew den Sinkflug ein. Von ihrem TCAS erhält die Tupolew dagegen das Kommando: Steigen.

23:35:03 Uhr: Der Lotse wiederholt die Anweisung für die Tupolew, schnell zu sinken. Die Anweisung wird von der Besatzung sofort bestätigt.

23:35:10 Uhr: Die Besatzung der Boeing erhält von ihrem TCAS das Kommando, den Sinkflug zu verstärken.

23:35:19 Uhr: Die Besatzung der Boeing meldet dem Lotsen, dass sie den Sinkflug eingeleitet habe.

23:35:24 Uhr: Die Tupolew erhält von ihrem TCAS die Anweisung, den Steigflug zu verstärken.

23:35:32 Uhr: Die beiden Flugzeuge kollidieren in elf Kilometer Höhe.

Das Unglück forderte 71 Todesopfer.

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