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Erfolg der Caritas-Märkte offenbart Armutsproblem

In den Caritas-Läden werden nicht nur Nahrungsmittel verkauft. swissinfo.ch

Auch in der reichen Schweiz gibt es Arme. Sie leben mit einem Minimal-Einkommen und können sich nur das Allernötigste leisten. In Caritas-Läden erhalten sie seit 20 Jahren Produkte des täglichen Bedarfs zu Tiefstpreisen. Immer mehr Leute machen davon Gebrauch.

Ein Flasche Fruchtsaft? 1,50 Franken statt 4,20 Franken. Ein Kilo Zucker? 90 Rappen statt 1,20 Franken. Klopapier? 1,95 Franken statt 5,95 Franken. “Unsere Waren kosten im Durchschnitt 30 bis 50 Prozent weniger als in einem normalen Laden”, sagt Corinne Saurant, die für zwei Caritas-Märkte im Kanton Neuenburg verantwortlich ist.

Wir befinden uns in einem Laden nahe dem Stadtzentrum von Neuenburg, der im August 2011 eröffnet wurde. Caritas Basel eröffnete vor genau 20 Jahren den ersten Caritas-Markt (damals Carisatt) für Armutsbetroffene in der Schweiz. Heute finden Menschen in finanzieller Not landesweit bereits 23 Caritas-Läden. Und ihre Zahl soll bis 2020 auf 30 steigen.

Nicht nur Lebensmittel

In den Regalen finden sich nicht nur Lebensmittel, sondern alle mögliche Waren: Waschmittel, Shampoo, Hygieneprodukte, Taschen, Windeln und vieles mehr.

“Ich komme nicht zum ersten Mal hierher”, sagt eine 23-jährige Kundin. Sie habe ein zweijähriges Kind und könne hier viel Geld sparen. “Und wenn ich gerade nicht das finde, was ich suche, komme ich eben ein anderes Mal wieder”, fügt sie an. Ansonsten müsse sie in einen anderen Laden gehen.

Manche Kunden müssen beim Einkaufen gebremst werden. “Höchstens 10 Liter am Tag pro Familie” steht über einer Palette von Milchpackungen. “Wir wollen so vielen Familien wie möglich helfen, daher müssen wir manchmal ein Limit setzen”, sagt Corinne Saurant. Bei Thunfisch beispielsweise: “Sie können sich kaum vorstellen, wie schnell die Dosen verschwinden.”

Keine Waren nach Verfallsdatum 

Aber wie funktionieren die Caritas-Märkte? Beliefert werden sie von einer Genossenschaft mit Sitz im Kanton Luzern, die Verhandlungen mit den grossen Detaillisten führt. Die Mehrheit der Waren stammt aus Überproduktion, Liquidationen, oder es handelt sich um auslaufenden Produkte. Geliefert werden sie von 300 Unternehmen, darunter insbesondere Coop und Migros, die beiden grössten Detaillisten der Schweiz.

Auf Grund dieses Mechanismus variiert das Angebot von Woche zu Woche. “Vor Weihnachten hatten wir kaum Schokolade, während nach den Festtagen die Regale voll waren. Vor Ostern ging es etwas besser: Wir hatten immerhin einige Osterhasen”, sagt Corinne Saurant.

Viele Produkte aus der Überproduktion sind nahe am Verfallsdatum. Schneller Absatz ist gefragt. “Wir können keine verfallenen Produkte verkaufen, denn für uns gelten die gleichen Regeln wir für alle anderen Detailhändler”, sagt Charles Rubeli, Geschäftsführer des Caritas-Markts in Neuenburg.

Für Grundnahrungsmittel ist aber immer gesorgt. “Wir kaufen diese direkt von den Produzenten und verkaufen sie dann zum Selbstkostenpreis weiter”, erklärt Saurant. Die Versorgung mit bestimmten Waren wie Kaffee oder Kakao wird durch Denner zu garantiert niedrigen Preisen gewährleistet.

Obst und Gemüse

Neben Grundnahrungsmitteln gibt es auch günstig Obst und Gemüse. Die Lieferung wird seit 2010 durch eine Zusammenarbeit mit der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz ermöglicht, die sich für eine gesunde Ernährung einsetzt.

Dahinter steckt die Idee, auch armen Bevölkerungsschichten eine ausgeglichene Ernährung mit Obst und Gemüse zukommen zu lassen. Empirische Studien haben gezeigt, dass armutsbetroffene Personen sich häufig wenig ausgeglichen ernähren und eher Pasta oder Reis als Gemüse einkaufen.

“Wir hatten sehr positive Reaktionen auf diese Initiative. Die Verkäufe sind in die Höhe geschnellt. Eine Mutter sagte mir: Endlich kann ich zu Hause Früchte auf den Tisch stellen”, erzählt Saurant.

Berufliche Wiedereingliederung

Neben günstigen Einkaufsmöglichkeiten bieten die Caritas-Märkte für einige erwerbslose Personen auch die Möglichkeit, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren.  

“Abgesehen vom Geschäftsführer funktionieren einige Läden ausschliesslich mit Freiwilligen. Bei uns arbeiten aber auch Personen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Sie sollen so ihre Chance auf Wiedereingliederung steigern”, hält Saurant fest.

“Dafür braucht es Flexibilität und pädagogisches Geschick, denn einige Mitarbeiter haben ein ziemlich chaotisches Leben hinter sich”, meint Charles Rubeli. Zudem müsse man bei Ausländern auf den kulturellen Hintergrund achten: “Einem Tunesier kann man die Dinge nicht auf dieselbe Weise erklären wie einem Afghanen.”

Einkaufskarte nötig

Der Laden steht allen Hilfsbedürftigen offen. Um einkaufen zu können, muss man eine so genannte “Einkaufskarte” vorweisen, die auf Grundlage diverser sozialer Kriterien ausgestellt wird.

“Hier darf einkaufen, wer Sozialhilfe, IV/AHV-Ergänzungsleistungen oder Zuschüsse auf die Krankenkassenprämien erhält”, erklärt der Geschäftsführer. Damit sei rund ein Viertel der im Kanton wohnenden Personen potentiell einkaufsberechtigt.

In Neuenburg kommen jeden Tag rund 70 Kunden in den Caritas-Markt. In La-Chaux-de-Fonds sind es 100.

Umsatz stark gestiegen

Der Umsatz der Caritas-Märkte ist im letzten Jahr um 13 Prozent auf über 9 Millionen Franken angewachsen. Innerhalb von fünf Jahren hat sich der Umsatz verdoppelt.

Dieser Trend trifft auch für den Kanton Neuenburg zu. In La-Chaux-de Fonds stieg der Umsatz in drei Jahren um 36 Prozent und erreicht mittlerweile 390‘000 Franken.

Corinne Saurant weiss nicht so recht, ob sie sich über dieses Wachstum freuen soll: “Denn am besten wäre es eigentlich, wenn unsere Märkte gar nicht existieren müssten.”

Gemäss einer vom Bundesamt für Statistik veröffentlichten Statistik gab es 2010 in der Schweiz 586‘000 arme Menschen.

Gemäss dieser Statistik ist der Anteil der Armen in der Bevölkerung rückläufig: Von 9,1% (2008) auf 7,8% (2010).

Einelternfamilien sind am stärksten von Armut betroffen. Ihr Anteil beträgt 26%.

Bei den Alleinstehenden leben 17% unter der Armutsgrenze (2‘243 Franken im Monat gemäss Bundesamt für Statistik).

Bei den jungen Personen unter 18 Jahren erreicht der Armutsanteil 7,6% und entspricht damit dem nationalen Schnitt aller Altersgruppen. Der Anteil steigt bei Personen über 65 Jahren deutlich an, insbesondere wenn sie alleine leben (25,9%).

Je geringer die Ausbildung, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, zum armen Teil der Bevölkerung zu gehören.

Die Studie des Bundesamtes für Statistik beruht auf einer zufälligen Stichprobe von 7000 Familien (mehr als 17‘000 Personen), die in vier aufeinander folgenden Jahren befragt wurden.

Caritas Schweiz ist ein Hilfswerk der Katholischen Kirchen in der Schweiz mit Sitz in Luzern. Caritas Schweiz wurde 1901 nach deutschem Vorbild gegründet.

Zuerst konzentrierte sich die Arbeit auf Bedürftige im Inland. Erst 1936 wurde die Hilfe aufs Ausland ausgeweitet. Das Hilfswerk nahm sich Opfern des Spanischen Bürgerkriegs an.

Heute kümmert sich Caritas Schweiz insbesondere um Hilfsbedürftige und Asylsuchende sowie um Flüchtlinge.

Im Ausland ist das Hilfswerk in 40 Ländern tätig und verfolgt 350 Entwicklungsprojekte. Zudem leistet Caritas Soforthilfe im Katastrophenfall.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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