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EU-Erweiterung: Verpasst die Schweiz den Zug?

EU-Kommissar Günther Verheugen (2.v.r.) applaudiert Bundesrätin Micheline Calmy-Rey. Keystone

Die Schweiz ist auf die 10 neuen EU-Staaten weit mehr angewiesen als diese auf die Schweiz.

Dies ist die Hauptaussage am 9. Europa-Forum in Luzern, welches Politiker und Wirtschaftsführer aus der Schweiz und fünf der neuen EU-Mitgliedstaaten zusammenbrachte.

Das dreitägige Forum, einer der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Anlässe der Schweiz, ist dieses Jahr dem Thema “EU-Erweiterung und die Schweiz” gewidmet.

Günter Verheugen, der abtretende EU-Erweiterungs-Kommissar, sagte in seiner Ansprache am Montag: “Im Wirtschafts-Jargon gesprochen, hat die Integration der neuen Mitgliedländer genau jene Win-Win-Situation ergeben, die wir uns vorgestellt hatten.”

Ausserdem seien die neuen EU-Mitglieder in der Lage, ökonomisch viel schneller aufzuholen als sie es im Alleingang könnten. “Die bisherigen Mitglieder profitieren von deren beschleunigtem Wachstum”, sagte Verheugen weiter.

Positive Effekte

Auch für die Schweiz habe die Integration der zehn neuen EU-Mitgliedstaaten positive Aspekte, betonte Aussenministerin Micheline Calmy-Rey.

Jedoch dürften die neuen bilateralen Vereinbarungen zwischen der Schweiz und der EU nächstes Jahr nicht vom Volk abgelehnt werden, schränkte sie ein.

Calmy-Rey schätzt, dass die Einführung der Bilateralen Abkommen zwischen den neuen EU-Mitgliedstaaten und der Schweiz, vor allem dasjenige über den freien Personenverkehr, ein Wirtschaftswachstum zwischen 0,2% und 0,5% pro Jahr bringen würde. Das ist immerhin ein Betrag von 1 bis 2 Mrd. Franken.

Auch Jean-Daniel Gerber, Schweizer Staatssekretär für Wirtschaft, betonte den Wert der zweiten Runde der bilateralen Verträge. “Eine Ablehnung wäre eine absolute Katastrophe”, sagte er. Sie würde die Schweiz in Europa komplett isolieren.

Wirtschaftliche Kosten

Während der Podiumsdiskussionen warnten Repräsentanten der neuen Mitgliedstaaten die Schweiz vor den möglichen Kosten, wenn sie ihre Chancen in Ost- und Zentraleuropa nicht wahrnähme.

“Schweizer Firmen neigen dazu, den Handel gegenüber Direktinvestitionen zu bevorzugen. Dies ist ein grosser Fehler”, sagte Istvàn Major vom ungarischen Staatssekretariat für Integration und externe Wirtschaftsbeziehungen.

“Im Bankenbereich und bei den Finanzdienstleistungen ist die Schweiz ein Global Player. Trotzdem ist sie auf dem ungarischen Markt überhaupt nicht präsent, ganz im Gegensatz zu Frankreich oder Deutschland,” kritisierte Major weiter.

Seiner Meinung nach sei das ein kolossaler Fehler, so Major. “Die Schweiz hat ihre Chancen verpasst – die interessantesten Positionen sind nun besetzt. Und das bedeutet Pech, weil die durchschnittliche Profitrate in diesem Sektor im letzten Jahr ungefähr 50% betrug.”

Zu wenig aggressiv

Major fügte hinzu, dass die Schweiz im Bereich Umweltschutz-Technologie Terrain an kanadische Firmen verloren habe, da sie nicht aggressiv genug auftrete.

Vlastimil Tesar, vom tschechischen Aussenministerium und Direktor der Abteilung für Handel und Landwirtschaft, stimmt mit dieser Einschätzung überein.

“Schweizer Investoren verpassten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs einige grosse Möglichkeiten, und zwar in der Tschechischen Republik, aber auch anderen Ländern der Region”, sagte er.

Er wies darauf hin, dass französische und deutsche Firmen das Land in jener Zeit mit Kapital überschwemmt hätten, als die Privatisierungswelle am höchsten schlug. “Das war mit der Schweiz nicht der Fall”, sagte Tesar.

swissinfo, Chris Lewis in Luzern
(Übertragung aus dem Englischen: Etienne Strebel)

Das Forum steht unter dem Motto “Die EU-Erweiterung und die Schweiz”.
Es bringt Politiker und Wirtschafts-Führer aus der Schweiz, Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien und Litauen zusammen.
Alle Teilnehmer, ausser den Schweizern, stammen aus den zehn Ländern, die im Mai zu den damals 15 EU-Staaten dazugestossen sind.

Teilnehmer am Europa-Forum befürchten, dass sich die Schweiz in Europa selbst isolieren könnte.

Aussenministerin Calmy-Rey und EU-Kommissar Verheugen beschrieben die ökonomischen Aussichten für die Schweiz und die erweiterte EU als “win-win”-Situation.

Delegierte der neuen Mitgliedsländer sagten, Schweizer Firmen hätten sich selbst benachteiligt, da sie in der Vergangenheit nicht direkt investiert hätten.

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