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Fleisch im Bild – Die dunkle Seite der Fotografie

© Hannah Collins

Das Fotomuseum in Winterthur zeigt unter dem Titel "Darkside I" eine monumentale Ausstellung fotografierter Sexualität. Die Schau scheint uferlos, sie ist opulent, provokativ und manchmal erheiternd.

Kann Sexualität abgebildet werden? Eine herausfordernde Frage für die Ausstellungsmacher in Winterthur.

Die Antwort geben die Ausstellung selbst und die Aufsätze im Fotoband, der die Schau begleitet: Sexualität lässt sich kaum fotografieren, aber man kann Bilder von ihr machen; so viele, dass der Ausstellungsbesucher für sich selbst entscheiden muss, wo die camera obscura zur camera obscena wird.

Mit “Darkside I” durchbricht das wichtigste Foto-Kunsthaus der Schweiz den Rahmen des bisher eher puritanischen Ausstellungs-Programms. “Es brauchte einen offenen Geist, für diese Ausstellung Geld zu sprechen”, erklärt Urs Stahel, der Direktor des Fotomuseums gegenüber swissinfo.

“Darkside I” macht den Körper zum fotografischen Thema. Die Schau ist Metapher. In vierzehn pastellfarbenen Räumen und Nischen versuchen die Ausstellungsmacher, Begierden und Fantasmen, Fetischismus, Voyeurismus, Travestie und Protest, die Binome “Sex und Macht” und “Sex und Geld” abzubilden. Ein heikles Unterfangen.

Sexualität ans grelle Licht

In der Sexualität verschlingen und verfliessen Körper, Geist und Seele – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das war einmal. Das Geschäft mit den grellen Fleischornamenten ist fotografisch in alle warmen und dunklen Zonen und bis in die letzten Ritzen des Körpers eingedrungen.

Dieses Geschäft mit dem sexualisierten Körper leuchtet das Privateste aus und macht Sex in der Variante der Pornografie zur Commodity, wie Weizen und Kaffee.

Wer durch die Räume von “Darkside I” des Fotomuseums schreitet, kann sich dem Voyeurismus und dem explizit Gezeigten nicht entziehen. Wie kaum woanders, ist in den Ausstellungsräumen öffentlich erlebbar, wie ein Bild tausend Worte ersetzt und wie schmal der Pfad ist zwischen Kunst, inszenierter Sexualität und Pornografie.

Urs Stahel weist darauf hin, dass die Fotografie die Ambivalenz des Schauens erst möglich macht: “Fotografie ist für die Erotik, Sexualität, Begierde ein zentrales Instrument. Sie zeigt und stilisiert Lust und Leidenschaft, Fantasie und Begierde, Macht und Gewalt.”

“Darkside I” ist nicht sexistisch

“Darkside I” zeigt fotografierte Sexualität der vergangenen hundert Jahre bis heute. Grosse Namen wie Nobuyoshi Araki, Brassaï, Robert Mapplethorpe, Helmut Newton und Man Ray sind neben weniger bekannten und anonymen Fotografen in der Ausstellung vertreten.

“Darkside I” bietet einen heissen, kalten, lauen und für das Auge zuweilen ermüdenden Lauf durch einen hellen, grellen, dunklen und blutroten Kosmos von idealen, natürlichen, grotesken und verformten Körpern und seinen Flüssigkeiten.

Ist “Darkside I” eine Ausstellung für Männer? Das Fotomuseum hat den gender-spezifischen Aspekt der Schau hervorragend im Griff. Dem Team von Frauen und Männern, welche “Darkside I” realisierten, ist es gelungen, das wenig spannende Einweg-Verhältnis vom männlichen Subjekt und dem weiblichen fotografierten Objekt zu durchbrechen.

Ende der Scheinheiligkeit

“Darkside I” zeigt eine fast heitere Gleichberechtigung der abgebildeten geschlechtsspezifischen Sexualität. Die Ausstellung löst die alberne Trennung zwischen Bildern der offiziellen Hochglanzkultur und dem heimlichen Boudoir auf.

Sie zeigt, was bildlich geschieht, wenn man die scheinheilige gotische Säule neben dem nackten Jüngling der klassischen Hochkultur aus dem Bild nimmt. “Darkside I” zeigt neben dem Mainstream gleichberechtigt feministisch fotografierte Sexualität, Travestie und Homosexualität.

Wie politisch ist “Darkside I”? Urs Stahel erklärt, wo die Demarkationslinien in der Ausstellung verlaufen.

“Wir haben uns die Frage gestellt, welche spannenden Bilder über Sexualität im Lauf der Zeit zusammen gekommen sind. In einem ersten Schritt sind wir nicht politisch. Wir schauen. Wir überlassen die Besucher der Ausstellung, aber nicht nur. Wir diskutieren das Thema in einem Rahmenprogramm. “Darkside I” ist eine schaulustige u n d politische Ausstellung.”

Das Fotomuseum verzichtet auf Heuchelei. Es zeigt einen sexualisierten Bilderorkan, ohne auf die im zeitgenössischen Kunstbetrieb üblichen, soziologischen oder politischen Entschuldigungen zurück zu greifen.

swissinfo, Erwin Dettling, Winterthur

Die Ausstellung bringt mehr als 110 öffentliche, private und anonyme Leihgeber zusammen.

“Darkside I” bietet dem nachdenklichen Auge einen ausschweifenden, stimulierenden und dokumentierenden Bilderberg fotografierter Sexualität.

Eine Ausstellung in 14 Kapiteln, durch sichtbar unterschiedliche Haltungen voneinander abgeschirmt. Die Klammer bilden der Fluss von Motiven und Gestaltungsweisen.

Hauptsponsor der Schau ist die George Foundation. Diese Stiftung mit Sitz in Winterthur fördert und unterstützt innovative und unkonventionelle Projekte in den Bereichen Fotografie, Film und neue Medienkunst.

Der Name George erinnert an die kulturellen Tätigkeiten von George Reinhart (1942-1997), der das Fotomuseum in Winterthur angeschoben und unzählige Projekte in den genannten Bereichen gefördert hat.

Zu einem späteren Zeitpunkt wir das Fotomuseum Winterthur “Darkside II” zeigen.

Diese Ausstellung wird die Kehrseite des Umgangs mit dem Körper dokumentieren: Gewalt, Krankheit und Tod, eine vermutlich weit weniger lustvolle Bilderreise.

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