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Franz Gertsch interpretiert die Realität immer freier

Ausschnitt aus "Herbst". Franz Gertsch

"Herbst" ist das erste von vier Monumentalgemälden zu den vier Jahreszeiten, das der Schweizer Künstler fertig gestellt hat. Dabei treibt Franz Gertsch seine Polarität zwischen Abstraktion und Realismus einen Schritt weiter.

4 Meter 90 breit und 3 Meter 25 Hoch: Die Dimension verlangt nach einem grossen Raum. Das Museum Gertsch in Burgdorf zeigt “Herbst” in einem Raum, zusammen mit den früheren Werken des Meisters, dem Landschaftsbild “Gräser I” und den Frauenporträts “Silvia III” und “Johanna I”.

Mit dieser Gegenüberstellung will die künstlerische Leiterin des Museums, Anita Sha, aufzeigen, “dass das konzeptuelle Vorgehen des Künstlers bei allen Motiven stets dasselbe ist”.

Ab einer Distanz von ein paar Metern zeigt “Herbst” eine fotografisch genaue Waldlandschaft. Auch die kleinsten Zweige, Fussspuren und die Lichtreflexionen sind sichtbar.

Aus der Nähe betrachtet, ist “Herbst” ein abstraktes Gemälde, bestehend aus Pinselstricken und Farbflächen. Der Wechsel vom Gegenständlichen zum Abstrakten ist im direkten Vergleich deutlicher, radikaler, als in den Porträts oder im Grasbild.

“Bilder sind auch meine Biographie”

“Das stimmt”, sagt Franz Gertsch dazu. “Das hat mit meiner Entwicklung zu tun. Bei diesem Bild habe ich sehr frei interpretiert. Jedes Bild verlangt nach einer bestimmten Malerei.”

Auf die Frage, wieso er erst jetzt, in seinem Spätwerk, die Abstraktion konsequent radikalisiert, lacht Gertsch und sucht gar nicht erst nach einer tiefschürfenden Erklärung: “Ich sage immer, meine Bilder sind auch meine Biographie.” – Punkt.

“Der Wechsel zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion ist die Erfindung von Franz Gertsch”, sagt Anita Sha. “Gertsch bezeichnet ja auch seine Frauenporträts als Gesichtslandschaften. Durch die überdimensionale Vergrösserung erscheint hier ein Auge wie ein See, oder ein Stück Haar wie ein Birkenwäldchen.”

Malen aus einem Guss

Am Anfang der Gemälde von Gertsch steht eine Fotografie. Diese Vorlage projiziert er in überdimensionaler Grösse an die Leinwand in seinem Atelier. “Für mein neues Bild ‘Herbst’, habe ich jeweils nur kurz projiziert und dann aus der Erinnerung heraus gemalt”, so Gertsch.

Konkret heisst das: Der Meister malt das abstrakt, fiktionale Bild auf die Leinwand, das aus der Distanz jedoch wie ein realistisches Abbild der Fotografie aussieht.

“Ich habe noch nie ein Bild zweimal angefangen”, sagt Gertsch. “Ich trete auch nicht ständig ein paar Schritte zurück, um zu kontrollieren. Das ist eigentlich nicht nötig. Ich habe genug Übung. Wenn ich zurücktrete, dann tue ich das aus Nervosität, oder, weil ich mich ausruhen muss. Den unteren Bereich der Bilder male ich liegend.”

Der Interpret bringt Papier zum Klingen

“Herbst” ist das erste von vier Monumentalgemälden zu den vier Jahreszeiten. “Jetzt arbeite ich am ‘Sommer’. Das Bild ist gut zur Hälfte gemalt. Ich rechne damit, dass es im kommenden Frühjahr fertig ist”, erzählt Gertsch.

Dass er mit dem Herbst begonnen habe, sei reiner Zufall. “Ich habe ein Foto vom Waldeingang in der Nähe unseres Hauses gefunden.” Danach habe er mit Malen begonnen. Erst später habe er auch Fotos von den andern Jahreszeiten gemacht.

“Nein, nicht vom exakt gleichen Standpunkt aus”, lacht er. “In der klassischen Musik ist die Partitur ein Schriftstück. Es braucht den Interpreten, der daraus Musik macht.”

swissinfo, Andreas Keiser, Burgdorf

“Herbst” ist vom 11. Oktober 2008 bis zum 2. August 2009 im Museum ausgestellt.

Das Museum wurde im Herbst 2002 in Burgdorf eröffnet.

Es wurde aus privaten Mitteln finanziert.

Der Burgdorfer Industrielle und Mäzen Willy Michel liess das Gebäude nach einem Wettbewerb durch das Architekturbüro Jörg&Sturm planen und bauen.

Das Museum beherbergt eine ständige Sammlung mit Werken von Franz Gertsch. Diese wird regelmässig mit Sonderausstellungen ergänzt.

8. März 1930: Geburt in Mörigen, Kanton Bern.

1947-50: Ausbildung an der Malschule Max von Mühlenen, Bern.

1969: erste grossformatige Gemälde.

1972: internationaler Durchbruch an der “documenta V” in Kassel mit dem Bild “Medici”.

1978: Teilnahme an der Biennale in Venedig

1980: Beginn der Porträt-Serie.

1986: Vorübergehende Aufgabe der Malerei. Macht grossformatige Holzschnitte.

1994: Wiederaufnahme der Malerei.

2002: Eröffnung des Museums Franz Gertsch in Burgdorf.

2005: Retrospektive in Burgdorf und Bern. Weitere Stationen der Ausstellung sind Aachen, Tübingen und Wien.

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