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Frauen zwischen zwei Welten

Annina Bosshard

Migrationsgeschichte ist weitgehend Männergeschichte. In ihrem Buch "Westwärts" mit Porträts von Schweizerinnen, die im 20. Jahrhundert in die USA ausgewandert sind, zeigt die Journalistin Susann Bosshard-Kälin, dass auch Frauen solche Geschichte schreiben.

“Als ich in New York die Freiheitsstatue sah, war mir, als würde ich innerlich noch mehr wachsen. Ich fühlte mich wie befreit.” – Ellen Carney-Ernst (83), Familientherapeutin, Zürich/Sag Harbor, NY.

“Ich bin Amerikanerin. Ich denke wie die Leute hier, tue aber nicht unbedingt die Dinge, die sie tun. Ich habe mich dem Land angepasst. What will be will be!” – Lillet Lee-von Schallen (77), Reisebüroangestellte, Sitten/Johnsburg, IL.

“Ich fühle mich nicht als Amerikanerin, sondern als Europäerin in Amerika. Die amerikanischen Akademikerinnen sind meist sehr ernst, zu ernst.” – Marie-Simone Pavlovich-Ludwig (65), Französisch-Professorin, Genf/Evanston, IL.

“Ich drehe jeden Dollar dreimal um. Ich bin eine Emigrantin, die, im Gegensatz zu vielen anderen, nicht reich wurde in der neuen Heimat.” – Nelly Schleicher (82), Arztsekretärin, Zürich/Las Vegas, NE.

Das sind Aussagen von vier der 15 in “Westwärts – Begegnungen mit Amerika-Schweizerinnen” von Susann Bosshard-Kälin porträtierten Schweizerinnen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die USA emigrierten.

Obwohl die Schweiz damals eher zum Einwanderungsland wurde, zogen auch Schweizerinnen und Schweizer ins Ausland, viele davon in die USA.

Der Reiz älterer Damen

Die porträtierten Amerika-Schweizerinnen sind ausnahmslos ältere Frauen zwischen 65 und 87 Jahren. Schon in ihrem Buch “Spruchreif – Zeitzeuginnen aus dem Kanton Schwyz im 20. Jahrhundert” (2006) ging es um ältere Frauen. Was reizt die Autorin an diesen?

“Sie strahlen Weisheit, Gelassenheit, Humor, Mut und Kraft für eine neues Leben aus, das imponiert mir sehr”, sagt Susann Bosshard-Kälin gegenüber swissinfo.ch. Das sei schon beim ersten Buch “Spruchreif” so gewesen.

“Dass ich zu den Frauen gekommen bin, ist aber eigentlich ein Zufall. Es gibt in der Schweiz sechs oder sieben Kantone, die Frauenbücher realisiert haben. Ich habe 2004 am Radio gehört, dass die Obwaldnerinnen ein Buch über ältere Damen realisieren. Ich dachte: Warum kann ich dasselbe nicht über den Kanton Schwyz machen, da ich ja seit ein paar Jahren dort wohne.”

Zufall und Hilfe von Auslandschweizer Professor

Die Anregung zum neuen Buch “Westwärts” habe ihr der Schweizer Historiker Leo Schelbert, der seit 50 Jahren in Chicago lebt, gegeben, so Bosshard-Kälin. Schelbert lehrte von 1971 bis 2003 an der Universität von Illinois, Chicago, amerikanische Geschichte, mit Schwerpunkt Einwanderung.

“Das war auch wieder ein Zufall: Ich war 2006 mit einer Fotografin in Indiana, USA. Ich hatte den Auftrag, für die Neue Zürcher Zeitung einen Bericht über den ältesten Benediktiner Mönch der Welt zu schreiben, der im Kloster St. Meinrad in Indiana lebt. In der nahe gelegenen Stadt Tell City, die am Ohio-River auch von Schweizern gegründet wurde, erkundigte ich mich, ob jemand Genaueres wisse über die Auswanderung aus der Schweiz.”

Man gab ihr die Adresse von Professor Leo Schelbert in Chicago an. Bosshard-Kälin traf Schelbert und erzählte ihm von ihrem Buch “Spruchreif”. Worauf er ihr sagte, sie solle doch ein Buch schreiben über Schweizerinnen, die in die USA ausgewandert sind.

Es gebe sehr wenig Quellen und gar nichts über Zeitzeuginnen, die über ihr Auswanderungsleben erzählten. “Das war die Initialzündung für das Buch ‘Westwärts’.” Schelbert vermittelte ihr die ersten sieben Interviews, die sie vor Ort machte.

Soziale Durchmischung

Von der Hausfrau und Mutter, Sekretärin, Bäuerin, Gynäkologin bis zur Französisch-Professorin sind in “Westwärts” beinahe alle sozialen Schichten vertreten.

“Dieser Aspekt war mir sehr wichtig”, sagt die Autorin. “Jede der 15 Begegnungen war einzigartig.”

Die porträtierten Zeitzeuginnen stammen aus verschiedenen Schweizer Kantonen, haben unterschiedliche familiäre und berufliche Hintergründe und leben in unterschiedlichen Regionen der USA. “Sie erzählen von der Vielfalt ihrer persönlichen Erfahrungen in der Schweiz und in den USA”, so Bosshard-Kälin.

Sie habe dann auch in der Schweiz herumgefragt, ob es Frauen gibt, die aus den USA zurückgekommen sind. “Da habe ich unter anderem von einer Bäuerin aus dem Kanton Schwyz gehört, die 40 Jahre in Ferndale im Bundesstaat Washington war und dann zurückgekommen ist in die Schweiz. Sie habe ich dann in der Schweiz porträtiert.”

Auswanderungsgeschichte nicht nur Männergeschichte

“Auswanderungsgeschichte ist Männergeschichte” – ein Zitat von Professor Leo Schelbert. Gerade deshalb müsse man jetzt einmal die Frauen zu Worte kommen lassen, sagten sich Schelbert und Bosshard-Kälin.

“Diese Frauen sind aus ganz verschiedenen Beweggründen ausgewandert. Natürlich sind die einen der Liebe wegen weggegangen aus der alten Heimat. Es gab auch solche, die aus Liebeskummer alleine emigriert sind. Eine Frau zum Beispiel ist nach der Scheidung mit ihrer kleinen Tochter nach New York ausgewandert.”

Es seien also unterschiedliche Beweggründe gewesen, so die Autorin. “Nicht alle Frauen sind einfach mit den Männern ausgewandert.”

Jean-Michel Berthoud, swissinfo.ch

“Westwärts – Begegnungen mit Amerika-Schweizerinnen”

15 Porträts von Schweizerinnen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die USA ausgewandert sind. Mit zwei Beiträgen des Historikers Leo Schelbert.

Farbfotos von Annina Bosshard, 2 CDs mit Ausschnitten aus den Gesprächen.

eFeF-Verlag Bern/Wettingen, 2009. Im Herbst 2010 erscheint das Buch in Englisch.

Susann Bosshard-Kälin (1954), Egg bei Einsiedeln, Journalistin und Kommunikationsfachfrau.

U.a. Initiantin, Mitherausgeberin und Mitautorin von “Spruchreif – Zeitzeuginnen aus dem Kanton Schwyz im 20. Jahrhundert” (2006) und Mitautorin von “Leben im Kloster Fahr” (2008).

Leo Schelbert (1929), Evanston bei Chicago, Auslandschweizer, lehrte von 1971 bis 2003 US-Geschichte mit Schwerpunkt Einwanderung an der Universität Illinois, Chicago.

Verfasser von “Einführung in die schweizerische Auswanderungsgeschichte der Neuzeit” (1976), “Alles ist ganz anders hier” (1977, 2009). 2006 wurde er von der FDP International zum Auslandschweizer des Jahres erkoren.

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