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Die Schweiz, ein Volk von Migranten?

Ausgestellte mini-Boote.
Die Ausstellung gibt einen Überblick über die Migrationsbewegungen: Vom ersten afrikanischen Menschen vor zwei Millionen Jahren bis heute. Musée d'histoire de Berne, Christine Moor

Migration gehört zur Schweiz: Die Ausstellung "Homo migrans" im Historischen Museum Bern zeichnet die Bevölkerungsbewegungen nach, die das Territorium der Schweiz und seine Bewohner und Bewohnerinnen über Jahrtausende hinweg geprägt haben. Sie gibt auch Auslandschweizern eine Stimme.

Wie viel Migration steckt in mir? Die Ausstellung “Homo migrans. Zwei Millionen Jahre unterwegs” im Historischen Museum Bern beginnt mit dieser einfachen Frage. Oder vielleicht doch nicht ganz so einfach, wie ein Rundgang durch zwei Millionen Jahre Bevölkerungsbewegungen zeigt, die ihren Anfang in Afrika nehmen und schliesslich bis auf das Territorium führen, das wir heute “Schweiz” nennen.

Die Ausstellung “Homo migransExterner Link ist noch bis am 28. Juni 2020 im Historischen Museum in Bern zu sehen. Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag zwischen 10 und 17 Uhr.

Besucher und Besucherinnen können die Spuren der ersten Menschen verfolgen, die sich gegen 15’000 v. Chr. in der Region niederliessen und eintauchen in die Invasion der Römer, die Ankunft der Germanen, den Schutz der Hugenotten, die Vertreibung der Täufer, die Auswanderung in die neue Welt und die Aufnahme tamilischer Flüchtlinge.

“Stellen Sie sich die Schweiz vor 1848 vor”, erklärt Jakob Messerli, der Direktor des Museums. “Wenn ich damals als Berner nach Genf, Zürich oder Basel ging, wurde ich als Migrant betrachtet. Ich war der Fremde. 1848 wurden alle Schweizer. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass es sich hierbei um eine Konstruktion handelt und um einen Prozess, der sich immer wieder erneuert.”

Die Museumsverantwortlichen hatte die Idee, eine Ausstellung zum Thema Migration einzurichten, weil sie eines der Themen ist, das Schweizer und Schweizerinnen am stärksten beschäftigt, wie sich in jährlich durchgeführten Umfragen zeigt. “Es ist oft ein sehr emotionales Thema”, sagt Messerli. “Wir wollten einen Schritt zurück machen, einige historische Fakten präsentieren und zur Beruhigung der Debatte beitragen.”

“Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass es sich hierbei um eine Konstruktion handelt und um einen Prozess, der sich immer wieder erneuert.” Jakob Messerli

Schweizer, die weggehen

Den Ausstellungsmachern war es wichtig, sowohl über Einwanderung, als auch über Auswanderung zu sprechen. Ein Teil der Ausstellung ist deshalb Schweizern und Schweizerinnen im Ausland gewidmet, mit persönlichen Berichten und einigen Kennzahlen.

“Wir haben uns für Gründe und Ursachen der Migration interessiert und festgestellt, dass es für diejenigen, die in die Schweiz kommen, oft die gleichen sind wie für diejenigen, die wegziehen”, erklärt der Direktor des Museums.

Einer der häufigsten Gründe ist die Arbeit: Bedingungen, Möglichkeiten oder Art der Stelle sind anderswo manchmal besser, wie die Aussagen jener Schweizerin zeigen, die heute in der Karibik Surfunterricht gibt. Eine Arbeit, die sie in der Schweiz nur schwer ausüben könnte.

“Es war uns ein Anliegen, auch Auslandschweizer in die Ausstellung miteinzubeziehen, und so auch zu erwähnen, dass rund 10% der Menschen, die einen roten Pass mit weissem Kreuz besitzen, anderswo leben”, präzisiert Jakob Messerli. “Wenn wir in der Schweiz über Migration sprechen, wird immer der Prozentsatz der Ausländer erwähnt, aber man vergleicht ihn nie mit dem Prozentsatz der Schweizerinnen und Schweizer, die im Ausland leben.”

Die Ausstellung hinterfragt auch den Unterschied zwischen “uns” und “den anderen”, indem sie in Erinnerung ruft, dass diese Kategorisierung sich im Lauf der Zeit entwickelt und immer wieder wandelt.

“Wir sind eine unglaubliche Mischung” Jakob Messerli

Gruppen kommen ins Land und werden zuerst als “Ausländer” wahrgenommen, doch mit der Zeit integrieren sie sich nachhaltig und werden Teil der “Schweizer”. Das ist zum Beispiel der Fall mit den italienischen Arbeitern, die im 20. Jahrhundert einwanderten, um beim Bau von Eisenbahntunnels und Alpentransversalen zu helfen.

Unterschiedlichste Wurzeln

In der Ausstellung wird auch die eigentliche Definition von Migration hinterfragt: In unserer globalisierten Welt machen praktisch alle eine Vielzahl von Migrationserfahrungen, sei es für das Studium, für die Arbeit oder die Freizeit. Es nicht mehr nur eine Frage des Passes.

“Die Fussball-Nationalmannschaft illustriert dies sehr gut”, erklärt der Museumsdirektor. “Die meisten Spieler haben Wurzeln im Ausland, besitzen den roten Pass mit dem weissen Kreuz, arbeiten aber oft in anderen europäischen Ländern. Für mich ist dies wirklich eine sehr gute Abbildung der heutigen Normalität.”

Eine Ausstellungsbesucherin steht vor einer Figur.
Musée d’histoire de Berne, Christine Moor

Die Museumsverantwortlichen haben sich an fünf Personen mit einem Schweizer Pass gewandt und sie gebeten, für die Ausstellung einen genealogischen DNA-Test durchzuführen. Eine Reihe von Videos zeigt ihre Reaktionen, als sie die Resultate erfuhren: Wer dachte, zu 100% schweizerisch zu sein, war überrascht. Alle haben sehr unterschiedliche Wurzeln, die in den Nachbarländern, aber auch in Skandinavien oder in Afrika liegen.

“Betrachtet man die Schweiz über einen langen Zeitraum hinweg, ist sie eine Gesellschaft, die durch Migration entsteht, eine unglaubliche Mischung”, sagt Messerli. “Auch wenn wir denken, dass wir bereits seit 20 Generationen in der Schweiz verwurzelt sind, wird unsere DNA zeigen, dass dies nicht der Fall ist.”

Das Museum möchte mit seiner Ausstellung “Homo migrans” den Besucher, die Besucherin zu einem Moment der Reflexion über die eigene Herkunft einladen. “Dass man den Gedanken zulässt, dass die Migration nicht so weit von einem entfernt ist. In einer weiter gefassten historischen Perspektive haben wir alle Vorfahren, die Migranten waren”, fasst Messerli zusammen.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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