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Schweizer System “macht Schule” in Myanmar

Schüler des Projekts E4Y in Yangon. swissinfo.ch

Die Schwierigkeit, den Schulabschluss zu schaffen, und der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften bremsen die Entwicklung in Myanmar. Um diesem Defizit beizukommen, exportiert ein Schweizer Verein das Konzept der Berufslehre ins südostasiatische Land.

Der grosse Saal verdunkelt sich zum zweiten Mal innert wenigen Minuten. Doch niemand regt sich auf. Die Studenten sind ungeplante Stromunterbrüche gewöhnt. Ein Generator springt an, der Raum erhellt sich und die Lektion kann weitergehen.

Wir befinden uns im 3. Stock des Myanmar Rot-Kreuz-Gebäudes, einem Haus im alten Stil im Stadtzentrum von Yangon. In den anderen Räumen des Hauses lernen dutzende Jungs und Mädchen, wie man sich besser im Arbeitsmarkt profilieren kann.

Im Zentrum für Berufsbildung, Center for Vocational Training (CVT), kann jeder seine eigenen Qualitäten entwickeln, auch wenn er aus ärmeren Familien stammt. “Dies ist eine neue Art, sich Wissen und Berufskompetenzen anzueignen”, sagt Direktorin Daw Yin Yin Aye gegenüber swissinfo.ch.

Studium und Arbeit

Ziel des CVT ist es, die jungen burmesischen Generationen zu bilden und zu erziehen, damit sie mehr zur Volkwirtschaft des Landes beitragen können.

In Myanmar, dem ehemaligen Burma, hätten sich die Produktionsmethoden seit langem nicht mehr modernisiert, sagen die CVT-Promotoren. Sie entsprächen deshalb auch nicht mehr internationalen Standards. Aus- und inländische Unternehmen hätten deshalb Probleme, qualifiziertes Personal zu rekrutieren.

Das Zentrum entstand auf Initiative von Max Wey, einem ehemaligen IKRK-Delegierten. Es war das erste, das in Myanmar die duale Ausbildung (Berufslehre) nach Schweizer Art eingeführt hat.

Die Lehrlinge absolvieren eine dreijährige Berufslehre bei einem Partner-Unternehmen. Einen Tag pro Woche besuchen sie das CVT, um Kurse in Theorie, Allgemeinbildung und ihrem Fachgebiet zu besuchen.

Angeboten werden fünf Berufe: Kaufmännisch, Möbelschreiner, Elektro-Monteur, Metallbearbeiter und Hotel- & Gastronomie Assistent. Für diese Branchen, unterstreicht man am CVT, gebe es kein öffentliches Bildungsangebot auf diesem Niveau.

Ein besseres Gehalt

“Ich habe keine Erfahrung am Arbeitsplatz und kann im CVT viel lernen”, sagt das erstsemestrige 18jährige Mami. “Ich möchte vor allem mein Englisch verbessern.”

Für Saw Nann Htwe ist es nicht immer offensichtlich, wie Schule und Arbeit unter einen Hut gesteckt werden sollen. Die Reisebüroangestellte nimmt Buchhaltungsstunden, lernt Handelsrecht und Unternehmens-Kommunikation. Das erleichtert ihr die Arbeit im Büro. “Ich kann das Gelernte sehr gut mit meinen Aktivitäten verbinden, was mich sicherer macht.”

Nach der Berufslehre erhalten die Lehrlinge einen Berufs-Zertifikat, so wie in der Schweiz. Dieses Diplom öffnet ihnen neue beruflicheTüren. Möglicherweise kann ich eine höhere Position bekommen”, hofft der 21-jährige Myo Zar-Aung, Wartungs-Spezialist in einem Privatunternehmen. “Ich möchte Elektro-Ingenieur werden.”

In den zehn Jahren des Bestehens hat sich die Anzahl der Eingeschriebenen am CVT stetig erhöht. 2012 sind es 450 Lehrlinge, doppelt so viele wie 2010, und 500 Partnerunternehmen.

Das einheimische CVT-Management führt die Schule operativ. Der Verein für  Berufsbildung in Myanmar mit Sitz in der Schweiz ist für die strategische Führung sowie die Finanzierung verantwortlich und organisiert die unterstützenden Fachexperten.

Regelmässig treffen sich Schweizer Experten und Dozenten mit ihren Kollegen in Yangon, um die Lehrpläne anzupassen und Erfahrungen auszutauschen.

Welches Kabel durchtrennen?

Neben den Theorielektionen und der praktischen Arbeit im Unternehmen nehmen die CVT-Lehrlinge jährlich auch an einem zweiwöchigen Kurs teil. In einem grossen Schuppen ausserhalb des Yangoner Stadtzentrums sind diverse Werkstätten und Industriemaschinen aufgestellt, um die technischen Fähigkeiten zu verbessern. Manchmal wird dabei ganz unten begonnen.

“Es gibt Lehrlinge, welche die Bedeutung der unterschiedlichen Farben von Stromkabeln nicht kennen”, sagt der für die Elektriker zuständige U Kyaw Myat Khaing. “Dabei ist dies ein fundamentaler Punkt bei der Arbeitssicherheit.” In ihren Unternehmen werde den Lehrlinge einfach beigebracht, gewisse Arbeitsabläufe zu wiederholen, ohne genau zu erklären, was für Regeln dabei zu beachten seien.

Während der Praxis hätten die Lehrlinge die Möglichkeit, einen ganzheitlichen Blick auf gewisse Produktionsabläufe zu werfen, sagt Ko Minn, Leiter der Werkstatt für die Möbelschreiner. “Die richtige Holzart auszusuchen und ein Modell zu zeichnen, will gelernt sein, es dann herzustellen und das fertige Produkt abzugeben ebenfalls.”

Zurück in ihren Unternehmen, so Ko Minn, könnten die Lehrlinge auf diese Weise das Gelernte an ihre Kollegen weitergeben. “So wird schliesslich auch effizienter gearbeitet. Dem Arbeitgeber spart das Zeit und Kosten.” Und diejenigen, die unternehmerisch aktiv seien, könnten nach einer gewissen Zeit selbständig werden.

Eine Schule für die Armen  

Ausser der normalen Berufslehre will das CVT auch jenen eine Ausbildung ermöglichen, die frühzeitig aus dem Schulsystem ausgeschlossen wurden. Innerhalb eines entsprechenden Projekts E4Y (Education for Youth) konnten rund 100 Kinder erneut die Schulbank drücken, und zwar in einem Gebäude, das vom Ministerium für soziale Wohlfahrt zur Verfügung gestellt wird.

Obschon das öffentliche Schulwesen unentgeltlich ist, werden die Eltern regelmässig aufgerufen, Beiträge zu leisten, sagt Hla Hla Hnin, die für dieses Projekt verantwortlich ist.

“Meine sechsjährige Tochter geht auf eine staatliche Schule. Dennoch muss ich für das Schulmaterial, die Schulkleidung, Hygieneartikel und auch für die Prüfungen bezahlen”, sagt ihre Kollegin Htet Htet.

Alles zusammengerechnet muss die junge Mutter monatlich umgerechnet rund 25 Dollar bezahlen – ein ansehnlicher Teil ihres Lohnes. “Bei zwei oder drei Kindern könnte ich mir das nicht leisten.”

Für ärmere Familien mit mehreren Kindern und tiefem Einkommen wird die Schulung zum unerschwinglichen Luxus. Das tägliche Leben wird wichtiger als die Schule, und viele Kinder müssen nach der Grundschule aufgeben. Laut dem Kinderhilfswerk Unicef schliessen in Myanmar weniger als 55% der Schüler die Primarschule vollständig ab.

Die Familien von Schülern im E4Y-Projekt hingegen zahlen nichts. Nicht einmal den Transport, unterstreicht Htet Htet. Wenn sie könnte, würde sie ihre Tochter nur allzu gern mitnehmen.

In der öffentlichen Schule zählten die Klassen bis zu 60 Schülerinnen und Schüler, so Hla Hla Hnin, und das Lern-Niveau bleibe bescheiden. “Hier versuchen wir, über die alte Lehrmethode hinaus zu gehen, die darin besteht, dass die Schüler einfach wiederholen, was der Lehrer vorsagt. Wir möchten die Kreativität stimulieren.”

Unterstützung durch die Behörden

Das CVT geniesst die Unterstützung der Behörden für diese Pionierarbeit. Der Blick in die Zukunft ist deshalb optimistisch. Das Zentrum hofft, seine Berufsausbildung auf weitere Branchen auszuweiten zu können. Bald sollen ähnliche Zentren auch in anderen Landesteilen eröffnet werden.

“Wir möchten für Myanmar als Modell dienen”, sagt Direktorin Daw Yin Yin Aye. “Ich hoffe nur, dass künftig die Zuwendungen nicht nur aus der Schweiz kommen, sondern auch von Unternehmen und Geschäftsleuten aus der Region.”

Gemäss dem UNO-Bericht über die menschliche Entwicklung (2011) liegt Myanmar auf Rang 149 von insgesamt 187 Ländern (Platz 132 im Jahr 2010).

Die Armut und die Versorgung mit Nahrungsmitteln gehören zu den grössten Herausforderungen in Myanmar.

Eine Untersuchung des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) hat gezeigt, dass der Chin-Staat im Westen des Landes am bedürftigsten ist. Dort leben 73% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

Mit dem Plan zur Reduzierung der Armut und zur ländlichen Entwicklung für die Jahre 2011-2015 will die Regierung Myanmars die Armutsquote von 26 auf 16% senken.

Das UNO-Gremium für Menschenrechte hat sich besorgt darüber geäussert, dass lediglich 0.9% des Bruttoinland-Produkts für Bildung bestimmt sind.

Sorge bereitet auch die auf fünf Jahre beschränkte Dauer der obligatorischen Schulzeit, die tiefe Quote von Kindern, welche die Grundschule besuchen, die hohe Zahl von Repetenten oder solchen, die in den ersten Jahren die Schule abbrechen, die Zahlung von indirekten Spesen durch Familien, die tiefen Lehrerlöhne sowie der Lehrermangel.

(Quelle: Bericht des UNO-Sondergesandten über die Lage der Menschenrechte in Myanmar, Tomas Ojea Quintana, März 2012).

(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)

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