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Renaissance der Bergdörfer

Tragfähige Zukunft für Bergregionen gesucht

Im Bündner Dorf Trun sorgt das innovative Textilunternehmen Gritex für Beschäftigung. RDB

"Ein mit Juwelen besetzter Halbmond im Herzen des Kontinents": So heisst es in einer Broschüre der Alpen-Konvention, der acht Länder angehören. Viele Gäste aus dem Unterland sind magisch von den Alpen angezogen. Doch wer will dort leben?

In der Schweiz zum Beispiel lebt nur einer von sieben Bewohnern in den Alpen, obschon fast zwei Drittel des Territoriums des Landes als alpin gelten. 1800 lag das Verhältnis noch bei mehr als eins zu fünf.

Jüngst fand in Poschiavo die “AlpenWoche” statt, an der Fachleute aus allen acht Alpenländern teilnahmen. Das Thema der Konferenz im Hauptort des italienischsprachigen Südtals im Kanton Graubünden hiess “Erneuerbare Alpen”. Die Teilnehmer diskutierten dabei auch die Frage der Förderung von neuen Erwerbsmöglichkeiten im Alpenraum.

“Menschen, die in ländlichen Regionen der Alpen leben, lieben die Nähe zur Natur, die intakte Umwelt, die höhere Lebensqualität”, sagte Guido Plassmann, Direktor des Netzwerks Alpiner Schutzgebiete (ALPARC), im Gespräch mit swissinfo.ch.

Gleichzeitig sei aber auch die Nähe zu einer Stadt ein wichtiger Faktor. Insbesondere für Pendler, die in einer nahegelegenen Stadt arbeiteten. Aber auch wegen des kulturellen Angebots, das dort in der Regel grösser sei, so Plassmann. Die Distanz sollte deshalb höchstens dreiviertel bis eine Stunde betragen.

Wie aber kann man die Menschen dazu bewegen, in ihren Bergregionen zu bleiben statt in die Agglomerationen abzuwandern, lautet die Gretchenfrage. Indem man ihnen wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnen müsse, die nicht auf Kosten der Umwelt gingen, sagt Plassmann.

Globale Verbindungen

Der Tourismus ist seit rund 200 Jahren ein Hauptfaktor der alpinen Wirtschaft. Heute aber gibt es auch Alternativen dazu. Globalisierung und Internet eröffnen viele neue Möglichkeiten. Eine wichtige Beschäftigungsquelle sind kleine und mittlere Unternehmen (KMU).

Traditionelle Industriebetriebe in grösseren Dörfern der Alpen verschwinden oder werden umstrukturiert. Von denen, die bleiben oder sich neu niederlassen, fussen viele heute nicht mehr auf Rohstoffen: Die Globalisierung bringe neue Chancen und Herausforderungen mit sich, sagte Heike Mayer, Professorin für Wirtschaftsgeographie an der Universität Bern, in Poschiavo.

“KMUs sind angewiesen auf Innovation und den Einsatz von Technologien, daher müssen sie in Kontakt bleiben mit neuen Ideen”, sagte sie.

“Unternehmen, die in globalen Märkten aktiv sind, sind mit anderen Regionen der Welt verbunden, durch ihre Lieferanten, Kunden, oder auch durch Beziehungen mit Universitäten. Vernetzt zu sein, ist ein wichtiger Bestandteil.”

Innovative Unternehmen

Melanie John von der Organisation OpenAlps hilft KMUs, sich zu vernetzen und dadurch externes Wissen und Know-how zu erschliessen. OpenAlps ist ein internationales Projekt unter Leitung der Handels- und Industriekammer Schwarzwald-Baar-Heuberg in Süddeutschland.

“Die Idee hinter dem Projekt ist, die richtige Innovation zielgerichtet und schnell zu den richtigen Leuten zu bringen”, erklärte sie. Viele Betriebe sind zwar innovativ, doch der Druck in der globalisierten Welt ist grösser geworden. Kein Unternehmen könne es sich leisten, still zu stehen. Oder anders gesagt: “Schluss mit lustig”, unterstreicht Melanie John. “Es ist natürlich nicht so, dass unser Projekt eine derart grosse Wirkung hat, dass ohne uns alle abziehen würden”, relativiert sie. Es gehe darum, die Wirtschaft im Alpenraum zu fördern, “Arbeitsplätze zu bewahren, aber auch neue zu schaffen”.

Auf Bildung setzen

Die Bergregionen müssen den kommenden Generationen Perspektiven bieten können, damit die Jungen nicht die Täler nicht verlassen.

Moritz Schwarz ist ein politisch sehr bewusster Schulabgänger aus Innsbruck. Er erachtet Bildung als stärkstes Argument, um junge Menschen in den Alpen zu behalten. Eine gut ausgebildete Bevölkerung könne in neuen Unternehmen, die mit nachhaltigen Projekten in die Gegend ziehen, Arbeit finden.

Schwarz und seine jüngere Kollegin, die 16 Jahre alte Isabella Hilber, sind fest von der Zukunft der Alpenregion überzeugt. Beide sassen im Jugendparlament der Alpenkonvention, das junge Menschen aus den acht Alpenstaaten zusammen bringt.

Obwohl das Jugendparlament auf die Idee eines Lehrers an ihrer Schule zurückgeht, räumte Hilber ein, hätten die meisten ihrer Mitschüler nicht besonders viel Interesse gezeigt. Und trotz ihrer Liebe zu den Bergen denkt sie, dass auch sie für ein Studium nach Wien oder nach Deutschland ziehen könnte.

Doch auch Bewohner, welche die Berge für ein Studium oder eine Stelle verliessen, könnten ihren Anteil beitragen, erklärte Silva Semadeni. Sie ist in Poschiavo selbst, nahe der Grenze zu Italien, aufgewachsen, lebt heute in Chur und sitzt als sozialdemokratische Nationalrätin im Schweizer Parlament.

“Es ist eine Tatsache, dass es in den Alpen nicht für alle Arbeit gibt; viele müssen daher wegziehen. Aber es gibt viele Möglichkeiten, wie Leute, die weggezogen sind, dazu beitragen können, die Interessen der Bergregionen zu fördern.”

Eine Frage der Perspektive

Spielt es denn wirklich eine Rolle, ob junge Menschen in den Bergregionen bleiben?

In gewissem Sinne sicher, sagt Franz-Ferdinand Türtscher, Bürgermeister der kleinen Gemeinde Sonntag im Vorarlberg (Österreich) zu swissinfo.ch. Wenn die Menschen wegzögen, werde es schwierig, das soziale und politische Leben in einem Dorf aufrecht zu halten. Das wäre der Beginn eines Teufelskreises.

Dorfvereine spielten eine sehr wichtige Rolle, sie seien ein Grund, wieso Pendler jeden Abend nach Hause zurückkehrten, statt dort zu leben, wo sie arbeiteten, sagte Türtscher. In seiner Gemeinde leben 750 Menschen. 50 von ihnen seien zum Beispiel Mitglied im Orchester, dessen Niveau hoch sei, und das ziehe wiederum neue Mitglieder an.

“Noch, darf man sagen, haben wir hier junge Menschen, die bereit sind, in Vereinen ein Ehrenamt zu übernehmen oder sich um ein politisches Amt zu bewerben. Aber ich würde mich nicht getrauen, zu sagen, wie es in 10 bis 15 Jahren aussehen könnte”, so Türtscher.

“Ich höre vor allem von jungen Menschen mit einer höheren Bildung etwa, dass sie sich hier nicht wirklich zurecht finden könnten”, sagte der Bürgermeister weiter.

Guido Plassmann ist optimistischer, was diesen Aspekt angeht. “Junge Menschen ziehen oft weg, sie wollen in einer Stadt leben, etwas Neues sehen, aber sehr oft kommen sie auch wieder zurück.”

Die Frage, ob es denn wirklich eine Rolle spielt, ob Menschen in den Bergen leben oder nicht, betrachte er von einer längerfristigen Warte aus.

“Das hat mit unserem Bild der Alpen zu tun. Ich denke, unsere Generation kann sich kaum vorstellen, dass der Alpenraum einfach überwuchert, dass es einmal nur noch Wald geben wird. Ob künftige Generationen sich so etwas vorstellen können, ist eine ganz andere Sache”, erklärte Plassmann.

“Und es geht nicht darum, ob das positiv oder negativ ist. Die Umwelt und unser Kulturraum sind für uns klar positiv ist, sie wollen wir natürlich bewahren. Aber das ist unsere Perspektive, die der Menschen. Die Perspektive der Natur mag eine ganz andere sein.”

Die AlpenWoche fand in Poschiavo im gleichnamigen, italienischsprachigen Südtal des Kantons Graubünden statt, zusammen mit der Konferenz der Mitgliedstaaten der Alpenkonvention.

An der Veranstaltung unter dem Motto “Erneuerbare Alpen” kamen Fachleute und Vertreter der Bevölkerung zusammen, um über aktuelle und künftige Herausforderungen im Alpenraum zu diskutieren, und darüber, wie dieser durch nachhaltige Entwicklung “erneuert” werden kann.

Organisatoren der AlpenWoche:

Alpenkonvention (internationales Übereinkommen zwischen den acht Alpenstaaten und der EU). Ziel der Konvention sind Schutz und nachhaltige Entwicklung des Alpenraums. Zurzeit hat die Schweiz die Präsidentschaft inne.

AlpArc, ein Netzwerk von mehreren Hundert alpinen Schutzgebieten

Das Internationale Wissenschaftliche Komitee Alpenforschung (ISCAR)

Club Arc Alpin (Arbeitsgemeinschaft von Alpen-, Bergsteiger-, Natur- und Raumplanungsvereinen)

Allianz in den Alpen, ein Zusammenschluss lokaler Behörden und Regionen

Cipra, Dachorganisation von Organisationen und Institutionen, die sich für den Schutz und die nachhaltige Entwicklung des Alpenraums einsetzen

Tourismusbüro Valposchiavo

Der Alpenbogen erstreckt sich von Frankreich im Westen bis nach Slowenien im Osten. Die alpinen Staaten dazwischen sind Deutschland, Italien, Liechtenstein, Monaco, Österreich und die Schweiz.

Die Alpen bedecken 190’000 km² und sind Lebensraum für rund 14 Mio. Menschen. Die Bevölkerungsdichte variiert je nach Region sehr stark.

Die wichtigsten Flüsse Europas – Donau, Rhein, Rhone und Po – haben ihre Quellen in den Alpen und werden von weiteren Flüssen gespiesen, die im Alpenbogen entspringen.

Die Alpen sind auch eine wichtige Tourismusregion mit rund 120 Mio. Gästen pro Jahr.

Die Alpenregion ist seit Jahrtausenden von Menschen besiedelt, welche die Landschaft durch ihre Aktivitäten kultiviert und geprägt haben, zuerst durch Landwirtschaft, Viehzucht, Forstwirtschaft und Bergbau.

Vor etwa 200 Jahren nahm der Tourismus seinen Anfang, vor etwa 100 Jahren kam der Wintertourismus hinzu und zog den Bau von Einrichtungen wie Skiliften, Bergbahnen, Hotels und Strassen nach sich.

Der Alpenraum ist von entscheidender Bedeutung für die Produktion von Wasserkraft, die als ökologisch recht verträgliche, CO2-neutrale, erneuerbare Energiequelle gilt. Durch den Bau von Dämmen wurden allerdings verschiedene Täler überflutet.

Fast zwei Drittel des Territoriums der Schweiz liegt im alpinen Raum.

Um 1800 lebten 22,6% der Schweizer Bevölkerung im Alpenraum, 1990 lag der Anteil noch bei 14,6%.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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