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Die Wunden des Erdbebens sind noch nicht verheilt

Aufbauarbeiten nach dem Erdbeben in Chile vom 27. Februar im Fischerdorf Coliumo bei Concepcion. Reuters

Seit dem Erdbeben in Chile mit fast 350 Toten und 2 Millionen beschädigten Wohnungen ist ein Monat vergangen. swissinfo hat mit der Schweizerin Regula Ochsenbein über die Lage, Veränderungen und gesellschaftliche Auswirkungen danach gesprochen. Sie lebt seit 29 Jahren in Santiago.

swissinfo.ch: Wie sieht die Situation im Land heute aus?

Regula Ochsenbein: Ich wohne in einem Aussenquartier von Santiago, in einem Viertel mit Einfamilienhäusern. Hier gab es fast keine Schäden. Das Leben scheint vollständig normal zu sein.

Geht man aber aus Santiago hinaus aufs Land, ist die Lage total anders: Viele zerstörte Häuser, viel Schutt, Leute, die nicht wissen, wo und wie mit dem Wiederaufbau beginnen.

In Santiago hat man nicht mehr sehr grosse Angst vor Nachbeben, in der Region des Epizentrums hingegen schon.

swissinfo.ch: Wann war das letzte Nachbeben?

R.O.: Nachbeben gibt es jeden Tag. Am Mittwoch war ich auf dem Land, da habe ich das Nachbeben auch ein wenig gespürt. Das letzte starke Beben war am 11. März, das man auch in Santiago gut gespürt hat.

swissinfo.ch: Können Sie nachts ruhig schlafen?

R.O.: Sicher nicht mehr so ruhig wie vorher. Nicht so sehr, weil ich Angst um mein Haus habe, dass hier etwas passieren könnte. Aber wegen all der Leute, die ich auf dem Land getroffen habe.

swissinfo.ch: Leben die Leute auf dem Land noch in Zelten oder Notunterkünften?

R.O.: Zum Teil hat man angefangen, Notunterkünfte zu bauen, viele Menschen leben noch in Zelten, andere sind bei Familienangehörigen untergekommen oder in Schulen und Kirchen. Viele Leute haben ihre Betten einfach in den Garten raus gestellt.

swissinfo.ch: Kennen Sie Leute, die immer noch traumatisiert sind, vielleicht Kinder oder ältere Menschen?

R.O.: Bei meinen Nachbarn gibt es mindestens bei zwei Familien Probleme mit Panik bei jedem Nachbeben. Kinder beginnen zu weinen, sie haben bei Mittagshitze kalte Hände. Aber auf dem Land ist die Angst der Leute viel grösser.

swissinfo.ch: Haben Sie Informationen von anderen Schweizerinnen und Schweizern, die in Chile wohnen?

R.O.: Persönlich nicht, aber so viel ich von der Schweizer Botschaft gehört habe, gibt es keine Verletzten und nur wenige Hausbeschädigungen, sowohl in Santiago wie auch südlich der Hauptstadt.

swissinfo.ch: Sie haben schon das letzte grosse Erdbeben 1985 in Chile miterlebt. Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie die beiden Beben vergleichen?

R.O.: 1985 ereignete sich das Erbeben bei Tageslicht, und es fing langsam an. Zuerst haben die Türen und Fenster gezittert, dann wurde es immer stärker. Erst dann merkte ich, dass das ein richtiges Erdbeben war und man raus musste. 1985 dauerte das Beben etwas mehr als anderthalb Minuten.

Dieses Mal bebte die Erde von Anfang an wahnsinnig stark, mit einem Lärm wie von einer Horde Raubtieren, es schüttelte die Häuser. Das bleibt einem in Erinnerung. Und das Erdbeben dauerte fast drei Minuten. Dann war Totenstille, und es gab kein Licht mehr.

swissinfo.ch: Wird in den Medien über die ausländische, eventuell auch die Schweizer Hilfe gesprochen?

R.O.: Über die Schweizer Hilfe wurde nicht berichtet. Dass die Schweiz hilft, habe ich übers Internet erfahren. Grosshilfsaktionen von den USA, Russland und Argentinien hingegen waren ein Medienthema.

swissinfo.ch: Läuft der Wiederaufbau zügig, oder gibt es Probleme?

R.O.: Probleme gibt es, weil das Ausmass der Katastrophe enorm gross ist. In den stark betroffenen Regionen ist der Wiederaufbau schwierig.

swissinfo.ch: Ist die Wasser- und Stromversorgung des Landes überall wieder sichergestellt?

R.O.: Nein. Dort, wo es Tsunamis gab, funktioniert die Wasserversorgung zum grossen Teil nicht. Da wird mit Zysternenwagen Wasser verteilt. Die Stromversorgung funktioniert nur zum Teil.

swissinfo.ch: Die chilenische Schriftstellerin Carla Guelfenbein hat in einem Interview mit der “Neuen Zürcher Zeitung” von einem “Riss durch die Gesellschaft” gesprochen, der jetzt noch grösser geworden sei. Armut und Reichtum existierten in Chile in extremer Form nebeneinander. Sehen Sie das auch so?

R.O.: Ich kann der chilenischen Schriftstellerin nur beipflichten nach all dem, was ich gesehen habe. Viele Leute in den betroffenen Gebieten sind selbstständig Erwerbende. Wenn mir das Haus zusammenbricht, wo ich mein Geschäft hatte, weder Arbeitsvertrag noch Versicherung habe: Wo fange ich wieder an?

Dann gibt es viele Angestellte, die inzwischen arbeitslos sind, weil die Fabriken nach dem Erdbeben nicht mehr funktionieren. Und auf dem Land sind vor allem Kleinbauern betroffen. Sie haben gar nichts mehr.

swissinfo.ch: Guelfenbein spricht im Interview auch von einer “Spirale der Enthemmung und Sinnlosigkeit “, die das Erdbeben in Gang gesetzt habe. Dies im Zusammenhang mit den Plünderungen.

R.O.: Ich sehe das auch so. Das Chaos, das nach dem Erdbeben entstanden ist, kann man fast mit einem Kriegszustand vergleichen. Und in jedem Krieg haben Soldaten unter anderem geplündert und vergewaltigt. Ähnliches ist hier passiert.

Ich denke, dass es bei den Armen mit einem Aufstau von Ressentiments zu tun hat, der dann zum Ausbruch kommt in einer Situation wie jener kurz nach dem Beben, wo quasi keine Regierungsmacht vorhanden ist.

Völlig unverständlich ist, wenn Ärzte und Ingenieure Supermärkte plündern oder eine kaputte Mühle ausnehmen und mit Vierradantriebautos zentnerweise Mehlsäcke wegschleppen.

swissinfo.ch: Kurz nach dem Erdbeben wurde die damalige sozialistische Regierung von Präsidentin Michelle Bachelet kritisiert, sie habe die Lage nicht im Griff.

R.O.: Die Kritik teile ich nicht. Die chilenische Katastrophenhilfe war gut organisiert und hatte schon Erfahrung vom Erdbeben 1985. Aber mit dem Zusammenbruch des Kommunikationssystems war es für die Regierung schwierig, mit den Katastrophengebieten in Verbindung zu treten.

Einen Vorwurf kann man Bachelet machen: Die Regierung wollte zu Beginn keine ausländische Hilfe annehmen – aus Stolz. Ein zweiter Vorwurf war, dass sie das Militär nicht von Anfang an eingesetzt hat. Das tat sie aus politischen Gründen nicht, wegen der schlechten Erinnerungen an die frühere Militärdiktatur.

Jean-Michel Berthoud, swissinfo.ch

Geb. 1949 in Luzern, aufgewachsen in Basel und Bern.

Studium in Bern (Geschichte, Politologie und Staatsrecht), 1977 Studium-Abschluss.

1978 bis Ende 1985 Mitarbeiterin im Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) in Bern, London, Portugal, zuletzt in Chile.

Nach dem Austritt aus dem diplomatischen Dienst in Chile beschliesst Regula Ochsenbein, in dem Land zu bleiben.

Regula Ochsenbein, die in der Hauptstadt Santiago de Chile lebt, hat eine 21-jährige peruanische Pflegetochter, die Ökonomie studiert.

Chile liegt an der Bruchstelle zweier tektonischer Platten und ist eines der erdbebengefährdetsten Länder der Welt.

Das Land hat eine lange Geschichte von Naturkatastrophen: Vulkanausbrüche, Erd- und Meeresbeben.

Seit dem Erdbeben von Valdívia am 22. Mai 1960 von 9,5 Grad der Richter-Skala mit nachfolgendem Tsunami und 1600 Toten ist das Erdbeben vom 27. Februar mit 8,8 Grad das schwerste in Chile.

Bis drei Wochen nach dem Beben wurden fast 350 Todesopfer sowie 2 Millionen beschädigte Wohnungen, davon 500’000 schwer, gezählt.

1939 forderte das Erdbeben in Chillan mit 30’000 Toten und 58’000 Verletzten die meisten Opfer.

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