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Ein Drama – auch für die Bergführer

Spuren der Bergsteiger führen zum Grat zwischen Jungfrau (rechts) und Rottalhorn. Keystone

In Chur stehen zwei Bergführer vor einem Militärgericht. Sie müssen sich wegen der fahrlässigen Tötung von sechs Soldaten einer Rekrutenschule verantworten, die bei einem Lawinenunglück an der Jungfrau zu Tode kamen. Der Fall erschütterte die Schweiz.

Das Urteil fällt voraussichtlich am Freitagabend. Urs Wellauer, Präsident des Schweizer Bergführerverbandes, verfolgt den Prozess. swissinfo.ch hat mit ihm gesprochen.

swissinfo.ch: Was bedeutet dieser Fall für die Zunft der Bergführer?

Urs Wellauer: Dieser Fall macht die ganze Bergführerschaft betroffen. Das gilt schon für kleinere Ereignisse, aber mit Sicherheit für einen solch grossen Fall mit sechs Opfern. Wir sind als Bergführerverband auch am Prozess, weil wir daran interessiert sind, dass wirklich geklärt wird, was vorgefallen ist.

swissinfo.ch: Nach dem Unfall vom 12.Juli 2007 standen die Bergführer in den Medien sofort in der Kritik. Wie haben Sie das erlebt?

U.W.: Das war damals ein grosses Thema für uns. Die Berichterstattung fand in einem medialen Sommerloch statt. Und wir erlebten es als Vorverurteilung. Im Vorfeld des Prozesses und seit Prozessbeginn in dieser Woche habe ich aber den Eindruck, dass sehr sachlich und adäquat berichtet wird.

swissinfo.ch: Ist es eigentlich normal, dass zivile Bergführer an militärischen Ausbildungen teilnehmen?

U.W.: Es ist die Regel. Das Militär beschäftigt meines Wissens vier Bergführer, die fest angestellt sind. Zudem sind weitere zivile Bergführer zwischen 700 und 800 Tagen im Jahr fürs Militär tätig. Die Armee bildet selber keine Bergführer aus.

swissinfo.ch: Halten Sie es für richtig, dass nun ein Militärgericht über das Verhalten der zivilen Bergführer richtet?

U.W.: Die Bergführer sind in ihrer Tätigkeit Mitarbeiter der Armee gewesen. Die Frage, welches Gericht für einen solchen Unglücksfall zuständig ist, kann ich nicht beurteilen.

swissinfo.ch: Beim laufenden Prozess spielt die Einschätzung der Lawinengefahr eine grosse Rolle: Mässig oder erheblich? Wie ist es möglich, dass es so unterschiedliche Einschätzungen gibt, wo doch täglich Lawinenbulletins publiziert werden.

U.W.: Das Bulletin vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos gibt es nur im Winter. Und der Unfall ereignete sich im Sommer. Dazu kommt, dass ein Bulletin nur allgemeine Aussagen macht für eine Region. Die Beurteilung einer bestimmten Stelle erfolgt immer individuell. Bei der Einschätzung der Lawinengefahr handelt es sich nicht um eine exakte Wissenschaft.

swissinfo.ch: Aber lässt sich eine Bergtour überhaupt unternehmen, wenn man zur Erkenntnis kommt, dass eine erhebliche Lawinengefahr besteht?

Es ist klar, dass man auch bei der Stufe erheblich Touren unternehmen kann. Dabei ist zu beachten, dass die Situation laufend analysiert und den Erkenntnissen entsprechend die Route unter Umständen angepasst werden muss.

swissinfo.ch: Wenn etwas schief geht, trägt der Bergführer die Verantwortung und riskiert – wie im vorliegenden Fall – einen Prozess und möglicherweise sogar eine Freiheitsstrafe. Ist diese Möglichkeit bei einem Bergführer ständig präsent?

U.W.: Es ist nicht so, dass wir bei einer Bergtour ständig daran denken, mit einem Bein im Gefängnis zu stehen. Aber wir sind uns unserer Verantwortung bewusst. Diese Verantwortung setzen wir nicht leichtfertig aufs Spiel. Es st klar, dass bestimmte Entscheide verantwortet werden müssen.

swissinfo.ch: Im vorliegenden Fall waren die Bergführer nicht mit Anfängern unterwegs…

U.W.: … überhaupt nicht. Es handelte es sich um Gebirgsspezialisten am Ende ihrer Ausbildung. Aber ich kann persönlich nicht beurteilen, wie gut ihre alpinistischen Fähigkeiten waren.

swissinfo.ch: Viel wird diskutiert über die Frage, ob es sich um einen Mitreiss-Unfall oder eine Lawine handelte, das heisst, ob ein gestürzter Rekrut die Seilschaft mitriss und die Lawine auslöste oder sich zuerst eine Lawine gelöst hatte. Wie wichtig ist das?

U.W.: Ich kenne die Gutachten zum Jungfrauunfall nicht im Detaill. Ich habe meine Informationen aus der Zeitung. Das sollte aber jetzt beim Prozess geklärt werden. Diese Frage ist in Bezug auf die Verantwortlichkeit der Bergführer und die Einschätzung der Gefahrenlage jedoch sehr wichtig.

swissinfo.ch: Was erwartet der Berufsverband der Bergführer von diesem Prozess?

U.W.: Wir haben Interesse an der Klärung, weil wir allenfalls daraus etwas lernen können. Ich weiss allerdings nicht, ob wir je die ganzen Unterlagen zu Gesicht bekommen, die für uns auch wichtig wären.

swissinfo.ch: Der Unfall war eine Tragödie für sechs Rekruten und ihre Familien, aber auch für die Bergführer. Hat sich der Verband um diese gekümmert?

U.W.: Die beiden Angeklagten haben vom Bergführerverband Unterstützung erhalten. Das ist unsere Aufgabe. In den Statuten steht, dass wir die Berufsinteressen der Mitglieder wahren müssen. Wir versuchen, Ihnen Halt zu geben.

swissinfo.ch: Auch Bergführer kommen immer wieder bei Bergunfällen ums Leben. Das wird in der Öffentlichkeit weniger stark wahrgenommen.

U.W.: Wenn ein Bergführer mit einem Gast ums Leben kommt, ist es für die Presse nicht so interessant, weil kein Überlebender da ist. Aber für uns ist das sehr dramatisch und tragisch. Da sprechen wir oft darüber.

swissinfo.ch: Sie leben also ständig mit diesem Todesrisiko?

U.W.: Das ist so. Und wir sind uns dessen bewusst. Man muss mit diesen Risiken umgehen können. Das ist aber gerade nach so einem Unfall, wie er an der Jungfrau geschehen ist, nicht immer sehr einfach.

Gerhard Lob, swissinfo.ch

Das Drama ereignete sich am 12. Juli 2007 um 09.50 Uhr unterhalb des Jungfraugipfels (4158 m) im Berner Oberland.

Insgesamt waren vier Seilschaften mit je drei Rekruten sowie zwei nicht angeseilte Bergführer im Aufstieg. Sie waren von der Mönchsjochshütte via Rottalsattel in den steilen Gipfelhang gestiegen, in dem für die Jahreszeit aussergewöhnlich viel Neuschnee lag.

Wie es dann zum Unfall kam, wird im laufenden Prozess rekonstruiert. Es wird vermutet, dass die vorderen beiden Dreierseilschaften von einer Lawine mitgerissen wurden. Fünf Rekruten und ein Wachtmeister im Alter von 20 bis 23 Jahren stürzten 1000 Meter in die Tiefe und starben.

Die anderen Rekruten und die Bergführer stürzten auch ab, wurden aber im Rottalsattel unverletzt aufgegangen.

Der militärische Ankläger wirft den Angeklagten, einem 34-jährigen Berufsunteroffizier und einem 47-jährigen zivilen Bergführer, die unsorgfältige Einschätzung der Schneeverhältnisse vor.

Er beschuldigt sie der mehrfachen fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Verletzung der Dienstvorschriften. Im Falle eines Schuldspruchs riskieren sie eine mehrjährige Freiheitsstrafe.

Für das Verfahren ist die Militärjustiz zuständig. Diese führt Strafverfahren bei Delikten von Angehörigen der Armee, des Grenzwachtkorps und des uniformierten Personals der Militärbetriebe. Die Militärjustiz ist in der Schweiz umstritten.

Der Schweizer Bergführerverbnad (SBV ) ist die landesweite Organisation der Bergführer.

Er tritt für eine gründliche Berufsausbildung mit einem zeitgemässen Lehrangebot ein, das den menschlichen, technischen und fachlichen Ansprüchen an die Bergführer gerecht werden soll.

Präsident ist Urs Wellauer (50) aus Meiringen im Kanton Bern.

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