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Zu alt, zu müde, zu krank, um zu leben

Immer mehr Menschen haben in der Schweiz den Wunsch, sich mit Hilfe einer Sterbehilfeorganisation das Leben nehmen zu können – auch wenn sie nicht todkrank sind.

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Ist das richtig und gehört auch ein selbstbestimmter Tod zum Leben? Oder führt das zu Druck auf alte Menschen, frühzeitig aus dem Leben zu scheiden? Zwei heikle Fragen, welche in der Schweiz derzeit die Debatte über die Sterbehilfe prägen. Ein Diskurs, der sich immer wieder neu entfacht. Das liegt daran, dass die Suizidbeihilfe in der Schweiz immer noch nicht ausdrücklich geregelt ist. So gibt es bis heute keine einheitliche Praxis bezüglich Sterbehilfe in Pflege- und Behinderteninstitutionen.

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Das Interesse an einem selbstbestimmten Lebensende nimmt aber seit Jahren drastisch zu. Über 1200 Menschen nahmen im letzten Jahr in der Schweiz Sterbehilfe in Anspruch. Das ist über ein Drittel mehr als noch im Jahr zuvor: 2014 haben sich gemäss den Zahlen des Bundesamtes für Statistik 742 Menschen (320 Männer und 422 Frauen) mit einem assistierten Suizid das Leben genommen. Zum Vergleich: Im 2003 waren es mit 187 noch deutlich weniger.

Palliative Pflege als Alternative

Mit der Qualität am Lebensende beschäftigt sich auch die palliative Pflege. „Viele Angehörige haben am Anfang Schiss. Doch gemeinsam den letzten Weg zu gehen, gibt viel Nähe. Man setzt sich mit dem Tod auseinander, das sind wertvolle Erfahrungen gerade auch für unser eigenes Leben. Wer das einmal erlebt hat, hat selber weniger Angst vor der letzten Reise“, erklärte der Palliativmediziner Steffen Eychmüller in einem Interview mit der Tageszeitung „Blick“ vor zwei Jahren. Heute ebnet er der palliativen Pflege als Alternative zur Sterbehilfe den Weg. Die Universität Bern ernannte Eychmüller zum Professor für Palliative Care – es ist erst die zweite solche Professur in der Schweiz.

Ein selbstbestimmter Tod wird in der Gesellschaft zunehmend akzeptiert. Die Menschen bekommen zunehmend das Gefühl, dies sei der moderne Weg zu sterben. Die Belastung für die Familie hingegen würde unterschätzt, heisst es oft von Kritikern an Sterbeorganisationen wie ExitExterner Link oder DignitasExterner Link. Viele Angehörige litten nach der Sterbehilfe an einem Trauma, wie eine Schweizer Studie aus dem Jahr 2012 zeigt. Zwar verursache auch ein «natürlicher» Tod bei Angehörigen grosse Krisen, so die Studie. Doch träten nach einer Freitodbegleitung psychische Störungen deutlich häufiger auf.

Sterben im küstlichen Schlaf

Eine Studie der Universität Zürich zeigt, dass in Schweizer Spitälern am Lebensende auch immer mehr Schlafmittel eingesetzt werden. Das kommt dann vor, wenn der Patient unheilbar krank ist, starke Schmerzen hat und nur noch die Erlösung wünscht. Der Anteil dieser „terminalen Sedierung“ ist in der Deutschschweiz innert kürzester Zeit drastisch gestiegen. Das besagt die Studie, welche die „NZZ am Sonntag“ jüngst publiziert hat. Im Jahr 2001 erfolgten noch 4,7 Prozent aller Todesfälle im künstlichen Schlaf, 2013 waren es bereits 17,5 Prozent. Auch im internationalen Vergleich seien diese Zahlen hoch, schreibt das Schweizer Sonntagsmedium.

Sterbehilfe – Schweiz in Pionierrolle

Vorreiter der Sterbehilfe war die Schweiz. Dort ist der ärztlich assistierte Suizid seit 1942 möglich. Eine ähnliche Regelung gilt für fünf US-Bundesstaaten. 1997 machte Oregon den Anfang, es folgten Washington, Montana, Vermont und schliesslich 2015 mit Kalifornien der bevölkerungsreichste Staat der USA. Sowohl assistierter Suizid als auch Euthanasie sind in den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Kanada und Kolumbien erlaubt.

Fachleute äussern sich besorgt über die Zunahme dieser Zahlen. „Ich finde das bedenklich. Es braucht eine öffentliche Debatte darüber, unter welchen Bedingungen diese Form der Selbsthilfe geleistet werden darf“, sagt Markus Zimmermann, Ethiker und Theologe gegenüber der „NZZ am Sonntag“. Aus ethischer Sicht allerdings könne bejaht werden, dass es zulässig sei, in Spitälern Personen in den Schlaf zu versetzen, bis sie sterben. Wenn man überhaupt nicht mehr anders helfen könne. „Voraussetzung sind schwere Schmerzen, der klare Wille des Betroffenen, und dass er sich nahe am Lebensende befindet“, so Zimmermann.

Die Grenze zur aktiven Sterbehilfe zu ziehen, in der Schweiz verboten und strafbar, ist nicht ganz einfach. Darunter versteht man das Töten des Menschen auf dessen Verlangen. Bei der terminalen Sedierung im Spital muss aber die Absicht zur Schmerzlinderung im Vordergrund stehen, nicht der Gedanke, den Tod des kranken Menschen möglichst rasch herbeizuführen. Auch wenn man versucht ist, zu helfen.

Gehört auch ein selbstbestimmter Tod zum Leben? Oder führt legale Sterbehilfe zu Druck auf alte Menschen, frühzeitig aus dem Leben zu scheiden? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren.

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