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“Industrie sorgte für Wohlstand in der Schweiz”

Büros, Läden und Wohnungen: Die alten Industriehallen der Sulzer in Winterthur haben seit einigen Jahren ein neues Leben angefangen. Keystone

Fliessbandarbeit, Schmutz, Schweiss: Erinnerungen an eine industrielle Ära, die heute weit weg erscheint. Mit dem Abriss von Fabriken verschwindet auch ein wichtiges Geschichtskapitel, das der Schweiz zu Wohlstand und sozialer Sicherheit verholfen hat.

“Wir müssen heute etwas unternehmen, sonst haben wir bald einmal nichts mehr”, sagt Hans-Peter Bärtschi.

Der Architekt aus der Zürcher Stadt Winterthur, einer der europäischen Pioniere der Industrie-Archäologie, kämpft seit 30 Jahren für die Rettung von Zeugen der grossen industriellen Ära der Schweiz.

“Ich bin zwischen der Giesserei Rieter, der Lokomotiven-Fabrik und dem Eisenbahn-Stellwerk aufgewachsen. Ab sechs Uhr morgens habe ich die schnaubenden Dampfloks gehört”, erzählt er. “Viele meiner damaligen Kollegen haben dieses Industriequartier verlassen. Ich bin geblieben, weil es mich auch heute noch fasziniert.”

Sein Architekturbüro befindet sich in einem alten Lokdepot in Winterthur, dem Zentrum der Schwerindustrie in der Schweiz. Von hier aus koordiniert der Architekt Aktionen im ganzen Land, wenn es um den Schutz einer stillgelegten Fabrik, den Erhalt eines Fabrikschlots oder die Rettung einer alten Maschine geht.

Wohlstand und soziale Errungenschaften

“Die Schweiz hat Mühe, ihre industrielle Vergangenheit anzuerkennen. Vielmehr werden oft die Mythen eines bäuerlichen Landes heraufbeschworen und der Wohlstand in erster Linie dem Finanzplatz zugeschrieben. Tatsächlich aber war es zuallererst die Industrialisierung, der die Schweizerinnen und Schweizer im letzten Jahrhundert ihren Wohlstand verdankten”, unterstreicht Bärtschi.

Vom Zweiten Weltkrieg verschont, befand sich die Schweizer Industrie 1945 in ausgezeichneter Verfassung und belegte weltweit den zweiten Rang, hinter den USA. Auch in den 1960er-Jahren lag die Schweiz noch unter den zehn am meisten industrialisierten Nationen der Welt. Die Fabriken boten rund die Hälfte aller Arbeitsplätze in der Schweiz an.

Die Industrialisierung brachte dem Land aber nicht nur Reichtum, sondern veränderte auch das Gesicht der Landschaft. Urbanisierung und Verkehrsnetze sind zu einem grossen Teil die Früchte der Industrialisierung.

Wie auch soziale Errungenschaften: Die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), die Invalidenversicherung (IV), die Arbeitslosenversicherung (ALV), die Krankenkassen und die Einführung von Ferien – sie alle sind Kinder der Industrialisierung.

Industrie am Wühltisch

Dann, in den 1970er-Jahren, begann der Ausverkauf der Schweizer Industrie, besonders der Schwerindustrie, die sich in den Händen von grossen Banken oder undurchsichtigen Financiers befand. Diverse Vorzeigebetriebe der Schweizer Wirtschaft – wie Sulzer, Alusuisse, Escher Wyss, Oerlikon oder Bally – verschwanden ganz oder wurden radikal verkleinert.

“Nicht-produktive Aktivitäten wie etwa die Finanzspekulation wurden viel rentabler als produktive Aktivitäten. Man verfiel einer neuen Logik, auf deren Basis der Finanzplatz die Industriebranche regelrecht geplündert hat. Zahlreiche Industrien wurden so filetiert und die weniger rentablen Sektoren geschlossen, verlagert oder ins Ausland verscherbelt”, erklärt Hans-Peter Bärtschi.

Neuer Wert

Wenn es nach dem Architekten geht, sollen wenigstens die wichtigsten Spuren der industriellen Geschichte der Schweiz gerettet werden: das vom Abbruch bedrohte materielle Erbe – Gebäude, Werkzeuge, Maschinen – aber auch das immaterielle: technisches Know-How und Erfindungen, die zu internationalen Standards wurden.

Die alten Fabrikgebäude, die einmal als unansehnlich galten, faszinieren heute viele und haben einen neuen Wert erhalten. “Seit einigen Jahren gehören auch alte Fabriken zu unseren Prioritäten”, sagt Adrian Schmid, Direktor des Schweizer Heimatschutzes.

“Wir können aber nur dann eingreifen, wenn sie von den jeweiligen kantonalen Behörden als historisches Erbe anerkannt werden. Schliesslich fehlt es in der Schweiz an einem kompletten Inventar der schützenswerten Güter.”

Um diesem Mangel entgegenzuwirken, hat Hans-Peter Bärtschi die Informationsplattform ISIS aufgebaut, in der bereits über 6000 wichtige historische Objekte katalogisiert sind.

In verschiedenen Städten hat der Architekt zudem gegen vierzig Vereine gegründet, die sich für die Erhaltung von Zeugen des industriellen Zeitalters einsetzen. “Oft haben mich ehemalige Angestellte oder Führungskräfte einer Fabrik angefragt, ob ich ihnen helfen könne, etwas zu retten.”

Intervention in Winterthur

Zu den grossen Erfolgen von Hans-Peter Bärtschi gehört die Erhaltung zahlreicher Gebäude der Firma Sulzer im Zentrum von Winterthur, die sich über eine Fläche von 22 Hektar verteilen. 1989 hatte die Direktion beschlossen, die Fabriken abzubrechen, um Platz für ein riesiges Immobilien-Spekulationsprojekt zu schaffen. Wegen seines Widerstands wurde das Projekt für zehn Jahre auf Eis gelegt und 2001 schliesslich aufgegeben.

Stattdessen entstand dort ein neuer Stadtteil, auf Basis einer nachhaltigen Entwicklung, die es erlaubte, zahlreiche der historischen Gebäude zu erhalten. Das ehemalige Industrieareal wurde wieder ein Teil der Stadt, mit Wohnungen, Büros, Geschäften, Schulen, Restaurants, Kinos und Freizeit-Zentren.

Die Umbau-Arbeiten sind noch nicht abgeschlossen, doch bereits heute dient die Gegend als eines der besten Beispiele für die Umwandlung eines industriellen Erbes und dessen Integration in ein wirtschaftliches und soziales Netz.

Es ist das Resultat eines langen Kampfs gegen einen Industriekonzern, der über grosse wirtschaftliche und politische Macht verfügt. “Während zwölf Jahren habe ich in Winterthur keine Aufträge mehr erhalten”, erzählt Bärtschi. “Doch ich glaube, das war es wert. Heute sind alle glücklich über die Wiedergeburt dieses innovativen und multifunktionalen Quartiers.”

Industrie: Zentrale Bedeutung

Der Spezialist für Industrie-Archäologie organisiert heute geführte Besuche, um die Bevölkerung an das industrielle Erbe heranzuführen, von dem sich ein Grossteil distanziert habe. Fabriken, um die herum einst ganze Städte gebaut worden waren, sind heute aus fast allen urbanen Zentren verschwunden. Zudem arbeiten im sekundären Sektor fast nur noch Ausländer.

“Die Industrialisierung ist ebenso wichtig für unsere Geschichte wie das Mittelalter oder andere grosse Epochen”, betont Bärtschi. Er will aber nicht nur die Vergangenheit der Schweizer Industrie retten, sondern auch deren Zukunft: “Eine Gesellschaft, die keine Güter produziert, hört früher oder später auf, zu existieren.”

Erste Werkstätten entstehen in der Schweiz im 16. Jahrhundert, hauptsächlich zur Herstellung von Textilien in der Ostschweiz und von Uhren im Jura und in Genf.

Die Industrialisierung des Landes beginnt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1850 arbeitet rund ein Drittel aller Arbeitstätigen im zweiten Sektor.

1877 erlässt die Eidgenossenschaft das erste Fabrikgesetz, das eine maximale Arbeitszeit von 11 Stunden pro Tag (an 6 von 7 Tagen) festschreibt und Kinderarbeit unter 14 Jahren verbietet.

1890 wird mit einem Verfassungsartikel die Kranken- und Unfallversicherung eingeführt, jedoch nicht obligatorisch. Zu jener Zeit entstehen auch die ersten Gewerkschaften.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts exportiert die Schweizer Industrie hauptsächlich Lebensmittel, Textilien und Schuhe.

Im 20. Jahrhundert, mit der Zunahme der Rohstoff-Importe, werden zunehmend Maschinen, Metallprodukte und Chemikalien produziert.

1939 wird das Armbrust-Symbol eingeführt, um Schweizer Produkte auf den internationalen Märkten kennzeichnen zu können.

Mitte der 1960er-Jahre erreicht die Schweizer Industrie ihren Zenit: sie beschäftigt die Hälfte aller Arbeitskräfte.

In den 1970er-Jahren beginnt der Abstieg des zweiten Sektors. Heute beschäftigt er noch 22% der Arbeitstätigen.

Im Ausland verfügt die Schweizer Industrie über dreimal mehr Angestellte als in der Schweiz.

1950 in Winterthur geboren.

Studium der Architektur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH).

1979 gründet er die Stiftung Arias Industriekultur mit dem Ziel, gemeinnützige Industriekulturprojekte von der Dokumentation bis zur Erhaltung von Gütern des industriellen Erbes zu realisieren.

Der Architekt hat über 20 Bücher über Industrie-Archäologie veröffentlicht und über 100 Ausstellungen zur Transport- und Industriegeschichte kuratiert.

(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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