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Kinderarzt Remo Largo liebte die öffentliche Debatte

Die Schule ist nicht auf Buben ausgerichtet, findet der Kinderarzt Remo Largo. Keystone

Am Mittwoch ist der Schweizer Kinderarzt und Autor Remo Largo im Alter von 76 Jahren gestorben. Bekannt wurde der Zürcher in den 1990er-Jahren mit seinen Büchern "Babyjahre" und "Jugendjahre". Darin plädierte er für einen stets respektvollen Umgang mit Kindern. Als Hommage an Largo hier ein Beitrag aus unserem Archiv aus dem Jahr 2001. Darin wird seine Rolle als unermüdlicher Vermittler gewürdigt.

Seine Bücher über Erziehungsfragen kennen heute im deutschen Sprachraum fast alle Eltern. Der Kinderarzt Remo Largo, der eben ein neues Buch auf den Markt gebracht hat, bezieht auch gerne Position. Zum Beispiel mit Kritik an der mangelnden Familienpolitik.

“Wir versinken im Wohlstand und werden dabei untergehen”, kritisiert Remo Largo.

Mit diesen Worten umreisst der dank seiner Bücher zu Erziehungsfragen wohl bekannteste Kinderarzt der Deutschschweiz – und darüber hinaus – seine Kritik an Schweizer Politikern, die gegen Investitionen in eine wirkliche Familienpolitik seien.

Ein Resultat der aus seiner Sicht fehlenden oder verfehlten Familienpolitik sei, dass zwischen 1971 und heute “1,1 Millionen Kinder nicht geboren wurden”. Diese Kinder hätte es gebraucht, um die Schweizer Bevölkerung längerfristig stabil zu halten.

Diese Einbusse übersteige die Zunahme der ausländischen Bevölkerung im gleichen Zeitraum deutlich, schrieb Largo jüngst in einem Beitrag für Das Magazin, die Samstagsbeilage des Zürcher Tages Anzeigers. “Und ab etwa 2030 wird die Bevölkerung in der Schweiz kräftig abnehmen.”

Dieser Warnruf ist typisch für die öffentlichen Stellungnahmen des “Kinderarztes der Nation”. Für Remo Largo, der diese Bezeichnung gar nicht mag, ist Familie keine Privatangelegenheit, und war es auch nie gewesen.

Früher, ruft er in Erinnerung, lebten Familien in grösseren Verbänden, wo man sich bei der Betreuung und Erziehung gegenseitig aushalf. “Wenn der Staat nicht eingreift, wie er das bei der Arbeitslosigkeit, der Altersversicherung oder der Krankenversicherung seit längerem getan hat, wird die Familie als Pfeiler der Gesellschaft immer weiter abbröckeln”, zeigt er sich besorgt.

“Es braucht ein Dorf, um ein Kind grosszuziehen”

Largo ist selber Vater von drei erwachsenen Töchtern, geschieden und hat vier Grosskinder, zwei davon Jugendliche. Der heute 68 Jahre alte, in Winterthur geborene Kinderarzt, unterstreicht sein Engagement für bessere Rahmenbedingungen gerne mit dem Sprichwort aus Afrika: “Es braucht ein Dorf, um ein Kind grosszuziehen.”

Heute aber, empört er sich, “sind in der Stadt Zürich die Hälfte der Kinder am Mittag und nach der Schule mindestens drei Mal pro Woche allein zu Hause, am Zürichberg (dem reichen Quartier der Stadt) sogar noch deutlich öfter”.

Ein weiteres Engagement Largos ist die Schule: So hatte er sich 2006 dagegen ausgesprochen, an den Primarschulen im Kanton Zürich zwei Fremdsprachen zu unterrichten. In einer Abstimmung wurden diese Pläne später gutgeheissen.

Largo hatte damals erklärt, “mit zwei Lektionen pro Woche bleibt der Unterricht gekünstelt”; es wäre besser, später, aber mit mehr Lektionen zu beginnen.

Die Schule ist auch in seinem letzten Buch “Jugendjahre” sehr präsent, in dem die Pubertät im Zentrum steht. Das Buch ist erst vor Kurzem erschienen und steht zurzeit auf Rang 1 der Schweizer Sachbuch-Bestsellerliste.

In seinem jüngsten Werk tritt Largo unter anderem für einen späteren Schulbeginn am Morgen für Jugendliche in der Pubertät ein. Die innere Uhr von Teenagern ticke anders, “aus biologischen Gründen können sie nicht früh einschlafen”, sagt Largo. “Das Umfeld sollte sich anpassen, nicht die Jugendlichen.”

“Schule begünstigt Mädchen”

Largo kritisiert auch schon seit mehreren Jahren, dass die Schule heute für Mädchen gemacht sei, zum Nachteil der Buben. “Seit einem Entscheid des Bundesgerichts von 1982 müssen die Zulassungskriterien für die Mittelschule aufgrund des Gleichstellungs-Prinzips in der Verfassung für Buben und Mädchen dieselben sein”, ruft er in Erinnerung.

“Und es ist einfach so, dass Mädchen in Fächern, die mit Literatur oder Sprache zu tun haben, begabter sind.” Und diese Fächer seien in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden.

Buben seien nicht dümmer als Mädchen, die Schule aber de facto nicht egalitär. Aufgrund der Gleichstellungsbemühungen bevorzuge man heute die Mädchen, habe also keine Gleichstellung mehr. Der Anteil der Schülerinnen in Gymnasien liege heute bei 60%, jener der Schüler bei 40%, erklärt Largo. Schon seit einigen Jahren sorgt dieses Thema in der Deutschschweiz für kontroverse Diskussionen.

Nicht versuchen, Teenager zu kontrollieren

Remo Largo ist aber nicht nur ein Fürsprecher der Buben, sondern der Teenager allgemein. In seinem jüngsten Werk plädiert er für weniger Kontrolle, was aber noch lange nicht einem “Laisser-faire” gleichkomme. “Die Jugendlichen müssen verstehen, dass sie für ihr Tun verantwortlich sind”, erklärt der Autor.

Die Eltern hätten vor allem während der ersten zwölf Lebensjahre ihrer Kinder Zeit für die Erziehung. Danach müsste man sie vor allem ihre eigenen Erfahrungen machen lassen.

Wichtig sei, dass man Jugendlichen “zuhört, ihnen ein einladendes Zuhause und Geborgenheit bietet, sie bekräftigt in ihrem Selbstwertgefühl. Und dass man nicht versucht, sie zu kontrollieren, denn das ist so oder so nicht mehr möglich”.

“Wenn man seine Kinder nicht auf Bäume klettern lässt, wenn sie klein sind, riskiert man in der Tat, dass sie eines Tages, wenn sie es dann doch versuchen, abstürzen könnten”, sagt Largo. Aus derselben Optik heraus findet er auch, Jugendliche sollten ab 16 Jahren Auto fahren dürfen, während der ersten zwei Jahre jedoch immer nur in Begleitung eines Erwachsenen.

Largo nimmt auch Anstoss an alarmistischen Diskursen über die Gefahren der modernen Gesellschaft oder die Gewaltbereitschaft oder angebliche Oberflächlichkeit der Jugendlichen.

“Es sind die Jugendlichen, die mit ihrer Kreativität und Innovation neue Ideen zum Blühen bringen werden. Hören wir doch auf damit, Jugendliche als Unruhefaktoren zu betrachten, die man bremsen sollte – und bringen wir ihnen stattdessen Vertrauen entgegen.”

Der 1943 in Winterthur geborene Remo Largo ist Kinderarzt und Autor mehrerer Sachbücher zu Erziehungs- und Familienfragen vom Babyalter bis zur Pubertät. Er gilt als Instanz in Erziehungsfragen.

“Babyjahre” erschien 1993, “Kinderjahre” 1999, “Glückliche Scheidungskinder” 2004.

Sein jüngstes Werk, “Jugendjahre”, das er wie “Scheidungskinder” in Zusammenarbeit mit der Journalistin Monika Czernin verfasst hat, dreht sich um die Pubertät. Es erschien 2011 im Piper Verlag. Wie seine früheren Werke ist es ein Bestseller und belegt auf der Sachbuchliste zurzeit Platz eins.

Von 1975 bis 2005 hatte Largo die Abteilung Wachstum und Entwicklung des Kinderspitals Zürich geleitet. Während dieser Zeit hatte er mehr als 800 Kinder im Rahmen von Langzeitstudien von der Geburt bis ins Erwachsenenalter begleitet und beobachtet.

Ein Hauptthema von Remo Largo ist die Gleichstellung von Buben und Mädchen in der Schule – und zwar unter einem eher seltenen Gesichtspunkt: Seiner Ansicht nach führt eine strikte Gleichstellung zu einer Benachteiligung der Buben.

Er verweist dazu auf ein Urteil des Bundesgerichts vom 12. Februar 1982. Mit dem Urteil wurde der bis dahin im Kanton Waadt für den Übertritt an die Mittelschule genutzten Praxis von unterschiedlichen Zulassungsnoten für Buben und Mädchen ein Riegel geschoben.

Der Kanton Waadt hatte die unterschiedlichen Zulassungsnoten mit der “körperlichen und psychischen Entwicklung der Buben und Mädchen” begründet, die in diesem Alter (10-11 Jahre) “deutliche Unterschiede” ausweise (…).

Mit der Einführung einer einheitlichen Zulassungsnote hätten mehr als 33 Mädchen unter 100 die Chance, in die höhere Schule zu übertreten, während es bei Buben kaum noch mehr als 28 unter 100 wären, hatte der Kanton argumentiert. Eine Art Quotenregelung verstosse demnach nicht gegen das Gleichstellungsprinzip, hatte der Kanton befunden.

Das Bundesgericht war in seinem Urteil dieser Argumentation nicht gefolgt und hatte auf der Grundlage des damals neuen Verfassungs-Artikels “Gleiche Rechte für Mann und Frau” entschieden, dass die Praxis der nach Geschlecht unterschiedlichen Zulassungsnoten nicht mehr zulässig sei.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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