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Kriminelle Jugendliche hatten oft schwierige Kindheit

Der Tessiner Jugendliche Damiano Tamagni wurde im Februar 2008 in Locarno zu Tode geprügelt. Keystone

Der Prozess gegen drei Schweizer Jugendliche, die in München mehrere Personen zusammengeschlagen hatten, hat die Debatte um Jugendgewalt neu lanciert. Eine Studie aus Zürich zeigt den Zusammenhang zwischen extremer Gewalt und schwieriger Kindheit.

Eine Studie der Universität Zürich hat erstmals in der Schweiz jugendstrafrechtliche, psychiatrische Gutachten von Jugendlichen analysiert, die wegen Mord, Vergewaltigung oder anderer schwerer Verbrechen verurteilt worden waren. Es ging darum, die Muster hinter diesem Verhalten herauszufinden und nach Lösungen zu suchen.

“Wir wollten wissen, um was für Kinder und Jugendliche es sich handelt”, sagte Cornelia Bessler, welche die Untersuchung der Zürcher Fachstelle für Kinder- und Jugendforensik leitete, gegenüber swissinfo.ch.

Laut den Befunden der Studie waren zwei Drittel der 106 untersuchten Minderjährigen zum Zeitpunkt ihrer schweren Straftaten zwischen 15 und 17 Jahre alt. Erschreckend ist, dass einer von vier Jugendlichen bereits im Alter von 14 straffällig wurde.

“Wer verletzt wird und dadurch zum Opfer wird, ist wütend und will, dass jemand bestraft wird”, sagt Bessler. “Das kann ich verstehen, aber es hilft überhaupt nichts. Denn oft werden diese Jugendlichen im Gefängnis noch schlimmer. Sie müssen behandelt werden.” Will heissen: Bestrafung macht jugendliche Straftäter noch krimineller “, so die Forscherin.

Lange Geschichte

Die Zürcher Jugendlichen, die in München vor Gericht stehen, waren alle 16-jährig, als sie auf einer Schulreise ausrasteten und innert einer halben Stunde fünf Menschen zusammenschlugen, darunter einen Behinderten sowie einen Geschäftsmann, dessen Gesicht regelrecht zertrümmert wurde. Alle drei waren vorbestraft.

Laut Manuel Eisner, Dozent am soziologischen Institut der Universität Zürich und Vize-Direktor des kriminologischen Instituts der Universität Cambridge, begehen Jugendliche selten ein schweres Verbrechen aus heiterem Himmel.

Eisners Erkenntnisse stützen Besslers Bericht, wonach ein Grossteil der gewalttätigen Jugendlichen bereits im Kleinkindalter Probleme hatte. “Es handelt sich in der Regel um eine lange Geschichte, die oft schon im Kindergartenalter begann”, erklärt Eisner gegenüber swissino.ch.

“Junge Menschen nutzen ihre Körperkraft. Sie kämpfen um Spielzeug, was nicht problematisch ist. Die meisten hören damit auf. Es gibt aber eine kleine Gruppe, die durchs Netz fällt und mit zunehmendem Alter immer gefährlicher wird, weil ihre physische Kraft zunimmt. Dann kommen noch Alkohol und Drogen ins Spiel. Die grosse Frage ist, wie sich diese Gruppe von anderen unterscheidet.”

Besslers Studie versuchte nicht, diese Frage zu beantworten. Stattdessen beabsichtigte sie, die jugendlichen Täter aus statistischer Sicht zu erfassen.

Integrieren, integrieren, integrieren

Bessler und ihr Team untersuchten Gutachten von jugendlichen Kriminellen im Alter zwischen 10 und 18 Jahren aus den Jahren 2004 bis 2006.

Einige Gemeinsamkeiten fielen dabei auf: So kamen männliche Jugendliche aus ärmeren und bildungsfernen Familien mit Migrationshintergrund in den Berichten häufig vor.

Zudem hatte ein Grossteil von ihnen Eltern ohne qualifizierte Berufsbildung. Und fast die Hälfte der Straftäter waren Ausländer, wobei ein Viertel aus dem ehemaligen Jugoslawien stammte.

Eisner, der an der Analyse nicht teilnahm, erklärte, “eine Negativ-Spirale” infolge Diskriminierung und Stigmatisierung führe unter Jugendlichen aus dem Balkan häufig zu “vorhersehbaren Stereotypen”.

Gesellschaft ist gefordert

Bessler ist der Meinung, die Studie sollte eher als ein Appell an die Gesellschaft gesehen werden, um darüber nachzudenken, wie mit jungen Menschen, die brutale Verbrechen begehen, umgegangen werden soll.

“Wenn diese jungen Leute ins Gefängnis kommen und sich dort nicht bessern, verpassen sie die Gelegenheit, sich zu integrieren.”

Das bedeute, dass die Gesellschaft vermehrt auf die Familien der Jungen achten und nach Wegen suchen sollte, wie man die Familien unterstützt, familiäre Bindungen stärkt und ihnen bei der Arbeitssuche und Ausbildung hilft.

Tim Neville, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)

Die Studie mit dem Titel: “Die Befunde jugendstrafrechtlicher Gutachten – eine Herausforderung für die Gesellschaft” wurde im Januar 2010 in der Schweizerischen Zeitschrift für Kriminologie veröffentlicht.

Die Verhandlung gegen die drei 16-jährigen Zürcher Schüler hat am 8. März 2010 vor der Jugendkammer des Landgerichts München I begonnen.

Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, da die Angeklagten zur Tatzeit minderjährig waren.

Das Trio ist des versuchten Mordes und der gefährlichen Körperverletzung angeklagt.

Sie sollen in der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 2009 auf einer Klassenreise in München in einem Park drei Arbeitslose verprügelt haben, einer war körperbehindert.

Danach schlugen sie einen Geschäftsmann aus Nordrhein-Westfalen halb tot und griffen später einen Studenten an.

Die Jugendlichen hatten zuvor Alkohol (weniger als ein Promille) konsumiert und einen Joint geraucht.

Die drei Angeklagten sind vorbestraft.

Den drei Schülern drohen Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren.

Das Urteil wird für den 7. April erwartet.

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