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150 Jahre “Fünfte Schweiz” beim östlichen Nachbarn

Menschen sitzen in einem Lokal um einen Tisch und diskutieren, in der Mitte steht eine Schweizer Fahne.
Im "Chamäleon" in Wien: Hier hält der Stammtisch der Auslandschweizer und Auslandschweizerinnen sein monatliches Treffen. 16'000 Schweizer und Schweizerinnen leben offiziell in Österreich. swissinfo.ch

Nur wenige Gehminuten vom Wiener Stephansdom entfernt wird man in einer stillen Seitengasse in einem "Beizli" mit "Grüessech" begrüsst. Hier im "Chamäleon" hält der Stammtisch der Auslandschweizer und Auslandschweizerinnen sein monatliches Treffen.

Hans Schmid aus dem Berner Oberland führt das “Chamäleon” seit elf Jahren. Der Name passt gut für ein Lokal, das seine Nationalfarbe kontinuierlich von österreichisch auf schweizerisch wechselt. Für die Touristen und Wiener gibt es die obligate Melange mit Sachertorte, aber auch Café “Schümli Pflümli” und Café “Lutz” werden angeboten. Ehrensache, dass es hier auch das beste Fondue der Stadt gibt.

16’000 Schweizer und Schweizerinnen leben offiziell in Österreich – berufsbedingt die meisten von ihnen in Wien und auf Grund der geographischen Nähe auch in Vorarlberg. Oft hat sie die Liebe gelockt oder sie sind nach einem beruflichen Aufenthalt der Liebe wegen geblieben.

“Wir Schweizer halten Wort”

So auch Judith Greiner, die seit 19 Jahren in Wien lebt und für einen Finanzdienstleister arbeitet. “Dass man ein Problem erst lösen will, wenn es da ist und nicht, wenn es sich bereits abzeichnet”, ärgert sie aber noch immer. Und auch mit der Unpünktlichkeit und Ungenauigkeit vieler Österreicher kann sie sich schwer abfinden. Je länger sie weg ist, desto stärker wird für sie das Bedürfnis die “schwizerdütsche” Kultur und Sprache zu pflegen.

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht 800’000 sind es, mehr als jede zehnte Person mit Schweizer Pass. Hier finden Sie unsere umfassende Berichterstattung über diese Community.

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Unternehmer, wie der 48-jährige Digitalisierungsberater Alexander Ramseier, profitieren davon, dass einige österreichische Kunden ihm mehr vertrauen, als den eigenen Landsleuten: “Sie sagen, dass sie unsere Verlässlichkeit als Schweizer schätzen. Wir halten Wort.”

Markus Rutz ist seit 17 Jahren in Wien und in der Unterhaltungselektronik tätig. Ihn schockierte anfangs, dass die Geschäfte so früh am Abend schliessen. “Mein Kühlschrank war oft leer”, kann der 45-Jährige heute darüber lachen.

Die österreichische Bürokratie findet er aber bis heute nicht lustig. “Hier sagt dir der Beamte nichts. Man muss alles vorab selbst recherchieren und ihn dann damit konfrontieren.” Dass er mittlerweile mit einer Wienerin verheiratet ist, macht es etwas einfacher.

Fremde österreichische “Diplomatie”

In Österreich gibt es Nachholbedarf für direkte Demokratie und einige heimische Spitzenpolitiker zitieren in diesem Zusammenhang gerne die Schweiz als leuchtendes Vorbild. Doch selbst in privaten Diskussionen sind Österreicher nicht direkt.

S.J. bemerkte das erstaunt, als sie vor fünf Jahren nach Wien kam und Probleme offen ansprach. Mittlerweile hat sie sich zwar in die Stadt verliebt, aber die österreichische Mentalität bleibt für sie gewöhnungsbedürftig.

Sie arbeitet im Sozialbereich mit Jugendlichen, die gemobbt werden, aber eckte bald selbst mit Österreichern an, wenn sie so kritisierte, “wie mir dä Schnabel gwachsä isch”. Nach Gesprächen mit anderen Auslandschweizern entdeckte sie, dass so gut wie alle mit der österreichischen “Diplomatie” zu kämpfen haben.

Erfreut sind alle Schweizer darüber, dass in Österreich vieles billiger ist. Doch spätestens dann, wenn sie ein österreichisches Gehalt beziehen, relativiert sich dieser Vorteil. “Ich verdiene hier nur ein Viertel von dem, was ich in der Schweiz bekommen habe”, sagt S.J. Die Liebe zu einem Wiener ist aber offensichtlich gross genug, um diese finanziellen Nachteile aufzuwiegen.

Eine der ältesten Institutionen im Ausland

Liebe hin oder her – auf den roten Pass verzichtet dennoch keiner gerne. Und für 300 Auslandschweizer und Auslandschweizerinnen ist die Schweizergesellschaft ein Stück Heimat in der Fremde geworden. Der Wiener Verein gehört weltweit zu den ältesten der Schweizer Institutionen im Ausland und feiert heuer sein 150-jähriges Jubiläum. Beim Galaabend im Grand Hotel Wien lobte Remo Gysin, der Präsident der Auslandschweizerorgansisation (ASO), die bewährte “Brücke von Wien ins Heimatland”.

Ein grosser Saal mit runden Esstischen, an denen Menschen sitzen, essen und reden.
Galaabend im Grand Hotel Wien: Der Wiener Verein gehört weltweit zu den ältesten der Schweizer Institutionen im Ausland und feiert heuer sein 150-jähriges Jubiläum. swissinfo.ch

Fast 750 Schweizerclubs und schweizerische Institutionen sind bei der ASO als Dachverband registriert. Sie interveniert auch, um das grosse Ärgernis der Auslandschweizer und Auslandschweizerinnen bei der Eröffnung eines Kontos in ihrer Heimat aus dem Weg zu schaffen. Hohe Einlagen und bis zu dreimal höhere Gebühren werden verlangt und der Wunsch nach einer Schweizer Kreditkarte gleicht oft einem Spiessrutenlauf.

Mit Hilfe des Auslandschweizerparlaments wird auch versucht für das E-Voting zu lobbyieren. Seit 1992 können Auslandschweizer und Auslandschweizerinnen ihr Stimm- und Wahlrecht auch in der Fremde ausüben. Dafür müssen sie sich im Stimmregister eintragen lassen. Momentan haben das fast 150’000 der knapp 800’000 Auslandschweizer und Auslandschweizerinnen weltweit getan.

Bei den Eidgenössischen Wahlen 2015 haben vier Kantone (Basel-Stadt, Genf, Luzern, Neuenburg) den Auslandschweizern und Auslandschweizerinnen bereits die elektronische Stimmabgabe ermöglicht. Das führte zu einer höheren Wahlbeteiligung. “Wir hoffen, dass der momentane Widerstand in der Schweiz gegen ein generelles E-Voting keine negativen Auswirkungen auf den Ausbau des E-Votings für Auslandschweizer hat”, sagte ASO-Präsident Gysin beim Wiener Galaabend im Gespräch mit swissinfo.ch.

Zünglein an der Waage

Nach Wählerpotenzial wäre die “Fünfte Schweiz” der drittgrösste Kanton. Sie kann daher auf jeden Fall das Zünglein an der Waage sein. Bei der Volksabstimmung zum Radio-und Fernsehgesetz 2015 entschied letztendlich nur ein Plus von knapp 4000 Stimmen.

Beim Galaabend am 10. November wurde in den Tischgesprächen auch politisiert, aber vor allem viel gelacht. Eidgenosse Erich Furrer nahm sich als Kabarettist bei seinem Auftritt der Alltagsprobleme an. Dazu gehört die Führerschein-Umschreibung als “Schikane” für die “widerspenstigen” Nicht-EU-Bürger.

Aber ein EU-Beitritt kommt auch für ihn nicht in Frage. “Alle Länder um uns wollen, dass wir das Geld mit ihnen teilen, das sie uns zum Aufbewahren gegeben haben”, scherzte er. “Am Ende wollen sie auch noch das Gold zurück, das uns nicht gehört.”

Der neue Wiener Bürgermeister Michael Ludwig musste aus Termingründen seine Teilnahme an der Gala absagen. Schade. Er hätte an diesem Abend viel über den trockenen Humor der Schweizer gelernt.

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