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Zwischen Verehrung und Aberglauben

In diesem Reliquiarium in der Freiburger Kathedrale sollen sich sterbliche Überreste des Heiligen Nikolaus von Myra befinden. Keystone

Was bedeutet eine Reliquie für einen Gläubigen? "Das ist schwierig zu beantworten, denn unter Gläubigen gibt es zahlreiche Rituale", sagt Youri Volokhine, Professor für Religionsgeschichte an der Universität Genf, im Gespräch.

Im letzten Dezember hat der türkische Archäologe Nevzat Çevik erneut die Forderung lanciert, die Reliquien des Heiligen Nikolaus von Myra an die Türkei zurückzugeben. Der Grossteil davon befindet sich in Italien, ein Knochen aber auch in der Freiburger Kathedrale St. Nikolaus.

Die Türkei möchte die Knochen in einem zukünftigen Museum ausstellen. Es soll der antiken Zivilisation von Lykien gewidmet sein, der heutigen Region Antalya, in der Nikolaus von Myra geboren worden war.

In diesem Zusammenhang erläutert Youri Volokhine, Dozent und Forscher an der Universität Genf, die Bedeutung von Reliquien in monotheistischen Religionen.

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swissinfo.ch: Vor 2000 Jahren hat die Berührung der Kleider von Jesus laut Gläubigen eine Krankheit heilen können. Heute verliert der christliche Glaube im Westen an Boden. Welche Bedeutung hat eine Reliquie noch, beispielsweise für einen Katholiken?

Youri Volokhine: Zuerst einmal eine Klarstellung: Ich glaube nicht, dass die christliche Religion im Niedergang ist. Betrachten wir nur die aktuellen sozialen Bewegungen in Frankreich, wo sich viele Leute auf der Strasse für dieses und jenes Thema auf den Katholizismus beziehen.

Ich sehe daher keinen Rückgang der Religion. Vielmehr beobachte ich eine Vielzahl der Praktiken. In Südeuropa etwa ist der Bezug zur Religion und ihren Riten nicht der gleiche wie im Norden.

Beispiel Italien: Ich kann Ihnen versichern, dass das Blut des San Gennaro in Neapel ein sehr ernstgenommener Kult ist. Auch wenn dies in grossen Metropolen wie Paris oder London belächelt wird, wo man es wohl als Folklore betrachtet.

Es ist daher wohl angebracht, die Verehrung von Reliquien aus zwei Blickwinkeln zu betrachten. Einerseits gibt es jene, die der Meinung sind, Religion bedeute eine ausgeglichene Beziehung zum Sakralen. Andererseits jene, die in einer solchen Beziehung, die in ihren Augen gegen die Vernunft läuft, einen Aberglauben sehen.

“In den europäischen Ethnografie- und Kunstgeschichts-Museen liegen unzählige Objekte, die nicht auf legale Weise erworben wurden. Das geht von den Friesen des Parthenon bis zum Kopf der Nofretete.

Man kann verstehen, wenn die Frage der Rückgabe beispielsweise nach einem Diebstahl aufkommt. Das ist aber in der Sache mit der Türkei nicht der Fall.

Ich bin nicht gleicher Meinung mit jenen, die sagen, dass die Reliquie des Heiligen Nikolaus – das Objekt des Konflikts – seinen Platz nicht auf islamischem Boden hat. Das sind Vorschläge ohne Zusammenhang, denn die Forderung nach einer Rückgabe wurde ja nicht von einer religiösen Behörde gestellt, sondern von einem Archäologen.

Der Wunsch, einen Knochen zurückzubekommen, um ihn in einem geplanten Museum über die antike Zivilisation von Lykien auszustellen, ist in meinen Augen daher nicht verwerflich. Ich finde es im Gegenteil schade, dass dieser Affäre der Anstrich eines Religionskrieges gegeben wurde.”

swissinfo.ch: In seiner berühmten Abhandlung über Reliquien bezeichnete der Reformator Johannes Calvin die Verehrung von heiligen Gegenständen als “heidnischen Aberglauben”. Wie wird seine Kritik heute interpretiert?

Y.V.: Sie bleibt gültig: Ein Protestant betreibt keinerlei Art der Verehrung sakraler Gegenstände. In seiner “Traité” hinterfragt Calvin die Echtheit einer Reliquie.

Als Beispiel nennt der Autor die Vorhaut von Jesus. Dieses Stück Haut, das bei seiner Beschneidung entfernt wurde, befindet sich in drei verschiedenen Kirchen Europas. Für Calvin sind es daher falsche Stücke.

Zweifel sind immer erlaubt. Ich will damit sagen, dass man die Argumentation Calvins ausweiten und in dieser Angelegenheit mit der Türkei die Echtheit der Knochen des Heiligen Nikolaus ebenso hinterfragen kann.

swissinfo.ch: Ist bei den Muslimen die Verehrung von heiligen Körperresten oder Objekten verboten, wie es auch jegliche Darstellung des Propheten Mohammed ist?

Y.V.: Im Gegensatz dazu, was man sich vorstellen könnte, ist die Verehrung von Heiligen unter den Muslimen sehr populär, auch wenn die Imame damit gar nicht einverstanden sind oder dies schlicht verneinen.

Beispiel Ägypten: Man staunt, wenn man all die Gräber von Scheichs oder verehrten Weisen sieht, zu denen Massen von Menschen mit Opfergaben strömen. Das sind schlichtweg Pilgerstätten.

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Was den Propheten Mohammed betrifft, ist seine Darstellung zwar verboten, nicht aber, Teile seines Körpers zu berühren. Im Topkapi-Museum in Istanbul ist eine Reliquie seines Bartes ausgestellt, ein Objekt der Verehrung.

Doch auch in dieser Religion weichen die Praktiken von Region zu Region und von Land zu Land voneinander ab. Es ist schwer abzuschätzen, wie viel ein Mensch persönlich in seine Hingabe investiert, und zu sagen, was eine Reliquie für diesen oder jenen gläubigen Muslimen bedeutet.

swissinfo.ch: Welche Bedeutung haben Reliquien denn für die Juden?

Y.V.: Nach meiner Kenntnis gibt es im Judentum keinen Reliquienkult um Körperteile von Heiligen. Im Gegensatz dazu können gewisse Objekte jedoch die Funktion einer Reliquie übernehmen, beispielsweise eine alte Tora.

Doch ich möchte präzisieren, dass bei den Juden die Kultur der Erinnerung mit einer historischen Tatsache zusammenhängen kann. Wie die Erinnerung an die Shoah, die meiner Meinung nach etwas Reliquiarisches hat, weil sie eine Beziehung zu einer beispiellosen Vergangenheit bewahrt, umweht von einer sakralen Aura.

Lizenziat in Religionsgeschichte an der Universität Genf (1991). Studien in Religionsgeschichte, Ägyptologie und Sanskrit.

Seit 2002 Dozent und Forscher für Religionsgeschichte (Faculté des Lettres, Universität Genf).

Autor zahlreicher Publikationen in französischer Sprache, darunter “Les objets de la mémoire. Pour une approche comparatiste des reliques et de leur culte” Philippe Borgeaud und Youri Volokhine, Studia Reliogiosa Helvetica, 10/11, Peter Lang, 2005.

swissinfo.ch: Das Interesse für das religiöse Erbe hat sich heute stark aufgefächert. Reliquien, früher wunderbehaftete Objekte, können zu simplen Handelsobjekten werden. So werden etwa auf der Auktions-Website Ebay Reliquien verkauft. Was halten Sie davon?

Y.V.: Nach meiner Kenntnis gibt es im Judentum keinen Reliquienkult um Körperteile von Heiligen. Im Gegensatz dazu können gewisse Objekte jedoch die Funktion einer Reliquie übernehmen, beispielsweise eine alte Tora.

Doch ich möchte präzisieren, dass bei den Juden die Kultur der Erinnerung mit einer historischen Tatsache zusammenhängen kann. Wie die Erinnerung an die Shoah, die meiner Meinung nach etwas Reliquiarisches hat, weil sie eine Beziehung zu einer beispiellosen Vergangenheit bewahrt, umweht von einer sakralen Aura.

(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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