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Süsser die Glocken nie klingen

Intragna im Centovalli-Tal: Das Dorf mit dem höchsten Campanile des Tessins. swissinfo.ch

In Intragna steht der höchste Kirchturm des Tessins. An wenigen Festtagen im Jahr erklingen vom Turm herunter Glockenspiele – im Originalton. Turmwart Stefano Früh will die Spiele digital in sein geplantes Kirchturm-Museum integrieren.

In der Tessiner Centovalli-Region gibt es nicht nur 100 Täler, sondern auch 100 Glocken, die an Festtagen wie Weihnachten ganz speziell schön erklingen: Bei den noch original erhaltenen Kirchtürmen steigt der Glöckner dabei zu einer bei den Glocken installierten Klaviatur hinauf. “Jede Taste der Klaviatur ist rund zehn Zentimenter breit, und sie spannt jede Glocke einzeln über Kettenzüge an einen Tastenton”, sagt Stefano Früh, Turmwart und Promotor des Tourismus für Intragna und das Centovalli-Tal.

Dieses lombardische Carillon-Glockenspiel, “Rebatt” genannt, gehöre zum Tessiner Volkskulturgut. Aber es sei als solches gefährdet. “Zur Zeit wird es in einigen der umliegenden Gemeinden noch gepflegt”, so Früh. “Diese Turm-Konzerte heissen ‘Suonando l’allegria’ und werden als Teil der Volks- nicht der Kirchenmusik erachtet.”

Im Süden ist es anders

Auch in der Schweizer Kirchturm-Kultur unterscheidet sich der Süden vom Norden. Kirchtürme im Süden heissen “Campanile” (Glockenturm) und stehen oft separat neben dem Kirchengebäude. “Während im Norden der Alpen die Glocken oben einfach aufgehängt und mit dem Seil zum Schwingen gebracht werden, sind sie im Süden an ein Rad fixiert. Damit lassen sie sich mit dem Seil in verschiedene Stellungen drehen”, so Früh.

Mechanisch-musikalisch ergäben sich dadurch grosse Unterschiede: Im Norden lassen sich die Glocken nur schwingen, aber nicht hochhalten. In den lombardisch konstruierten Türmen hingegen lassen sich die Glocken dank Rad und Gegengewicht aus Granit mit dem Seil hochhalten: “Trotz eines Gewichts von über einer Tonne lassen sie sich ausbalancieren. Sie kommen nicht runter, solange man das Seil nicht loslässt.”

Damit liessen sich, so Früh, mehr Melodien aus einem Glockenspiel herausholen. Im Turm von Intragna hängen zur Zeit sechs Glocken. Mit einem sechsstelligen Zahlencode werde die Melodienfolge vorgegeben, was mit bloss aufgehängten Glocke nicht ginge.

“Die Glockenturm-Technologie war deshalb im Tessin eindeutig höher entwickelt als nördlich der Alpen”, sagt der gebürtige Zürcher.

Türme: Museum für Dorfkommunikation

Diesen Reichtum dem Publikum nicht über ein Museum zugänglich zu machen, wäre für das Centovalli als aktive touristische Destination ein grosser Fehler: Früh plant deshalb, den Turm von Intragna als eh schon grössten Campanile des Tessins auch für ein ‘Kirchturmmuseum’ zu nutzen. “Der Turm hat eine Höhe von über 65 Metern, die Glocken hängen auf 40 Metern Höhe, aber bis dort hinauf gibt es im Innern des Turms noch viel ungenutzten Platz.”

Aber wie soll ein so traditionelles Sujet wie ein mittelalterliches Glockenspiel den modernen Bedürfnissen von Schülern und Touristen entsprechend dargestellt werden?

Im bereits bestehenden Museum im Dorf Intragna hat Früh i-Pods eingeführt – “für Verhältnisse à la Centovalli revolutionär”. Der Besucher wolle heute ja gleichzeitig die Gegenstände betrachten, darüber etwas hören und dazu noch möglichst wenig lesen müssen. “Dank der i-Pods, auf deutsch und italienisch, kann der Besucher sich nun auch selbst bewegen, ohne dass der Redefluss abbricht.”

Dieses Konzept möchte Früh auch für sein geplantes Kirchturm-Museum einsetzen. Statt veralteter grosser Texte hinter oder neben den ausgestellten Objekten möchte er Plasma-Bildschirme nutzen. “Damit kann ich die alten Gegenstände lebendig machen, und die Besucher selbst aktiv werden lassen.”

Geplant ist, dass künftig Museumsbesucher eine nachgebaute alte Rebatt-Klaviatur vorfinden, die mit einem Plasma-Bildschirm verbunden ist.

Uhren, Glocken, Zeichen

Im geplanten Turm-Museum will Früh auch den Zusammenhang zwischen den Tessiner Glockentürmen und den Kommunikationsbedürfnissen von früher darstellen: “Die Glocken dienten nicht nur für Kirchliches, sondern auch für ganz säkulare Durchsagen.

So schlug man die volle Stunde innert 3 Minuten nochmals an, falls es jemand beim ersten Mal nicht gehört haben sollte. Damit wusste dann am Mittag jeder Bauer oder Handwerker, der draussen arbeitete, mit Bestimmtheit, dass die Suppe auf dem Tisch stand.

Alexander Künzle, swissinfo.ch

Das Centovalli-Tal verbindet Locarno mit Domodossola und gilt als besonders malerische Wander- und Kulturdestination südlich der Alpen.

Die alten Rustici werden oft auch von niedergelassenen Deutschschweizern für Gruppen- und Kongresstouristen bewirtschaftet.

Für den oberen Teil des Centovalli gibt es ein Nationalpark-Projekt.

Bekannt ist das Centovalli auch wegen der Schmalspurbahn FART, die Domodossola seit 1923 mit dem Tessin verbindet.

Im 18. Jahrhundert, als der Turm in Intragna gebaut wurde, zählte das Dorf mit 1500 noch mehr Einwohner als Locarno unten am See.

Heute ist es ein malerisches Bergdorf mit über 900 Einwohnern und einem hohem touristischem Wert.

Seit Juni 2009 vom Tessiner Kantonsrat bestätigt, ist es der Hauptort der neuen Gemeinde Centovalli, mit 1200 Einwohnern.

Die Kirche war bereits fertig gebaut, als 30 Jahre später separat noch der Turm errichtet wurde.

Da die katholische Kirche das Salzmonopol hielt, erhielten nur jene Familien Salz, die beim Turmbau mithalfen. Es waren dann meist die Frauen, die die Steine von Fluss hochschleppten, um die Mauern aufzufüllen.

Das Geld kam grossteils dank den Ausgewanderten, die entweder als Kaminfeger in Norditalien oder als Hafenarbeiter in der Toskana ein Auskommen fanden.

Im Regionalmuseum in Intragna sind Gegenstände des Alltags zu sehen, die vom Mittelalter bis in die Zeit der 70er-Jahre reichen.

Heute gehört Intragna zur Agglomeration von Locarno.

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