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Vorzeigemedizin oder Scharlatanerie?

Die Homöopathische Medizin ist ein Bestandteil von Rudolf Steiners erweitertem Medizinverständnis. RDB

Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, könnte in diesem Jahr seinen 150. Geburtstag feiern. Seine anthroposophische Medizin steht auch heute noch hoch im Kurs, ist aber umstritten.

Man muss nicht unbedingt Anthroposoph sein, um den Erfolg der von Rudolf Steiner und der Ärztin Uta Wegmann “erfundenen” anthroposophischen Medizin anzuerkennen.

Anthroposophen wollen in der Medizin den Menschen als Ganzes ansprechen, weil dieser für sie auch ein geistiges Wesen ist und damit mehr als ein kompliziertes Zusammenspiel von Molekülen.

Für den Historiker und Anthroposophie-Experten Rudolf Zander sind esoterische, okkultistische Überzeugungen untrennbar mit Rudolf Steiners anthroposophischer Medizin verbunden. Steiner nimmt laut Zander für sich in Anspruch, die unsichtbaren Verbindungen zwischen physischer und geistiger Welt aufzeigen zu können.

So seien die Planeten für Steiner nicht nur Teil der physikalischen Welt, sondern auch geistige Grössen, die sich auf die Erde, den Menschen und auch auf die Medizin nieder schlügen.

Schul- und Alternativ-Medizin

Zander begründet den Erfolg der anthroposophischen Medizin auch damit, dass Steiner Schul- und Alternativmedizin miteinander verbunden habe.

Die anthroposophische Medizin hat für Zander aber auch deshalb bis heute überlebt, weil Steiner keine Quacksalber gewollt hätte, “sondern gestandene Ärztinnen und Ärzte”.

Was ist eine Krankheit?

swissinfo.ch fragte den anthroposophischen Schweizer Arzt Peter Heusser, was die anthroposophische Medizin im Vergleich zur Schulmedizin unter einer Krankheit verstehe. Der Inhaber des Lehrstuhls für Medizintheorie, integrative und anthroposophische Medizin an der Universität Witten Herdecke und langjährige Leiter der Lukasklinik im schweizerischen Arlesheim sagt: “Die Ursache der Krankheit kann auf geistiger, seelischer, physischer oder lebendiger Ebene liegen.”

Der anthroposophische Arzt versuche zu erkennen, welche Ebene bei einem Patienten gestört sei und dort therapeutisch einzugreifen, erklärt Heusser den Ansatz der anthroposophischen Medizin.

Er bringt dazu das Beispiel einer Krebserkrankung: “Zuerst wird z. B. ein Tumor mit einem schulmedizinischen Eingriff entfernt, mit Operation, Bestrahlung oder Chemotherapie.”

Dann folge der anthroposophische Ansatz: “Die Unterstützung der normalen Lebensfunktion, das Gesundheitsschaffende, das mit diesen Lebenskräften zusammenhängt, anregt, gezielt, durch bestimmte Substanzen, die aus dem mineralischen oder pflanzlichen Bereich gewonnen werden können”, sagt Heusser.

Aber auch das Seelische brauche Unterstützung mit Musik oder einer Kunsttherapie. Und weiter würden geistige Faktoren unterstützt, “zum Beispiel mit Hilfe bei der kognitiven Krankheitsverarbeitung, im Ernstnehmen von Sinn- und Schicksalsfragen, die mit dem Patienten besprochen werden”, so Heusser.

Sehr gut, aber…

Dem pflichtet auch der Nicht-Anthroposoph Dr. phil. Robert Jütte, Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch-Stiftung, bei: Bei der anthroposophischen Medizin sei die individuelle Zuwendung das grosse Plus.

“Damit steigern sie die Selbstheilungskräfte der Patienten, aktivieren ihn durch Heileurythmie, vermitteln ihm wieder einen Lebenssinn.”

Weiter sei das Verhältnis zum Arzt entscheidend, ob eine Therapie wirke oder nicht. Experimentelle Forschungen zeigten, so Jütte, dass selbst ein starkes Schmerzmittel allein nicht wirke, wenn man dem Patienten sage, es würde keine Wirkung eintreten.

Als Vorzeigemedizin in der Krebstherapie werde oft die Misteltherapie genannt. “Bei gewissen Patienten tritt in der Tat eine Verbesserung auf, die Metastasen-Bildung geht zurück. Aber in anderen Fällen wird sie sogar beschleunigt. Die Mistel ist kein Allheilmittel”, ist der Medizinhistoriker überzeugt.

Was den Placebo-Effekt betreffe, sei die anthroposophische Medizin eine ideale Konstellation, weil sie das Optimum aus der Behandlung heraushole.

Kosmische Einflüsse…

Gleichwohl ist Jütte ein wenig skeptisch, was die Esoterik bei der Herstellung von Heilpflanzen betreffe: “Nicht, dass man Pflanzen aus biodynamischem Anbau verwendet, die nicht mit Pestiziden behandelt sind, das kann ich gut nachvollziehen. Aber dass kosmische Einflüsse eine Rolle spielen sollen, oder dass es entscheidend ist, welchen Teil der Pflanze ich nehme, den Stängel oder die Wurzel, und das nicht vom Wirkungsspektrum her begründe sondern vom Patienten her, da habe ich schon meine Mühe.”

Jütte hat zwar Probleme mit der Weltanschauung der Anthroposophen, “aber bei aller Kritik muss ich sagen, mit ihnen kann man einen Dialog führen”.

Auf jeden Fall handle es sich bei anthroposophischen Medizinern um “Arztpersönlichkeiten, die bereits durch ihre Ausbildung eine unglaublich breite Bildung mitbringen, die eben nicht nur naturwissenschaftlich geprägt ist.” Deshalb wirkten sie überzeugender.

“Allen anthroposophischen Ärzten, die ich kenne, würde ich mich, wenn sie Hausärzte wären, sofort anvertrauen, denn ich habe das Gefühl, dass sie den Patienten verstehen und nicht übereilt etwas tun würden, was ihnen vielleicht von einem Pharmavertreter vorgeschrieben wurde”, sagt Robert Jütte.

Die Anthroposophische Medizin unterscheidet vier Ebenen oder Schichten der Wirklichkeit:

Der physische Leib gehorcht den Gesetzen der Physik und kann von der konventionellen Wissenschaft erforscht werden.

Der ätherische Leib folgt wie bei allen Lebewesen als ein über das Physische hinausgehende Organisationsprinzip besonderen Gesetzmässigkeiten, die dem Lebendigen (“Ätherischen”) eigen sind.

Der astralische Leib ist nur bei empfindenden oder beseelten Organismen, also bei Tieren, nicht aber bei Pflanzen vorhanden.

Das Ich, die geistige Individualität, erhebt den Menschen über das Tierreich. Ein Ich hat jeder Mensch, als solches erkannt wird es jedoch erst durch die höchste Stufe der übersinnlichen Erkenntnis. Steiner hatte nach eigenen Angaben diese Stufe erreicht.

Bei der Krankheit im anthroposophischen Sinn , ist die gesunde Wechselwirkung dieser Wesensglieder in irgendeiner Weise gestört. Die nähere Bestimmung dieser Störung besteht im wesentlichen in der anthroposophisch-menschenkundlichen Diagnose, die als eine Erweiterung oder Ergänzung der konventionellen Diagnose angesehen wird.

Spezifisch anthroposophische Arzneimittel beruhen auf dem Postulat, dass mineralische, pflanzliche und tierische Substanzen in jeweils spezifischer Weise die Wechselwirkung der menschlichen Wesensglieder beeinflussen können.

Diese Substanzen werden oft in homöopathischer Form verabreicht. Eine besondere Bedeutung hat hier die Misteltherapie bei Krebserkrankungen erlangt.

Daneben gibt es auch nicht-medikamentöse Therapieformen wie die Heil-Eurythmie, die rhythmische Massage und die anthroposophische Kunsttherapie.

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