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Die “falsche Therapie” für ein komplexes Problem

"Die Idee der Selbstbestimmung, die vom Phantasma des gallischen Dorfes gelenkt wird, die passt nicht mehr zu den heutigen Realitäten, ist aber immer noch ganz stark im kollektiven Bewusstsein der Schweiz verankert": Georg Kohler. pixsil

Das Ja zur Einwanderungs-Initiative entspreche dem tief im kollektiven Bewusstsein verankerten Bild eines souveränen, tapferen Volkes, sagt der politische Philosoph Georg Kohler. Nun stehe die Schweiz vor dem Entscheid, die wirtschaftlichen Folgen einer Abschottung in Kauf zu nehmen oder zu akzeptieren, dass das Bild nicht mehr in die Realitäten passe.

Wie beim Volks-Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR im Jahr 1992 hat die Romandie am 9. Februar die Initiative deutlich und geschlossen abgelehnt und sieht sich damit konfrontiert, dass sie das Ja der Deutschschweiz und damit der Mehrheit im Land akzeptieren muss.

Nur wenige Tage nach seinem Sieg provozierte der Chefstratege der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei, Christoph Blocher, die frankophone Minderheit im Land mit seiner Unterstellung, die Romands hätten “weniger Bewusstsein für die Schweiz”.

Die Reaktionen blieben nicht aus: Ein “Affront” sei das, eine “widerliche Aussage”, sagten Westschweizer Politiker und wiesen darauf hin, dass auch Westschweizer Kantone – genauso wie Blochers Heimatkanton Zürich, der ebenfalls Nein gestimmt hat – dank ihrer Wirtschaftskraft zum innerschweizerischen Finanzausgleich beitragen würden. Auch das sei eine “Form von Patriotismus”.

Die Bundesratsparteien unterstützen den Kurs des Bundesrats bei der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative. Die Regierung fühle sich in ihrem Vorgehen bestärkt, sagte Bundespräsident Didier Burkhalter im Anschluss an die Von-Wattenwyl-Gespräche zu Medienvertretern.

Bei dem Treffen zwischen Mitgliedern des Bundesrats und den Spitzen der Bundesratsparteien in Bern war der Urnengang vom 9. Februar das zentrale Thema.

Vorschläge zur Umsetzung habe es von Seiten der Parteien nicht gegeben, sagte der Präsident der Sozialdemokarten, Christian Levrat. Die Diskussion sei eher allgemein gewesen, für konkrete Vorschläge sei es noch zu früh.

Der Bundesrat will bis Mitte Jahr ein Umsetzungskonzept präsentieren, Ende Jahr soll ein Gesetzesentwurf vorliegen.

Parallel zur Arbeit in der Schweiz muss die Regierung den Entscheid des Schweizer Volkes in der EU erklären und die Möglichkeiten für eine Revision des Freizügigkeitsabkommens ausloten. Nächste Woche ist Burkhalter zu Besuch in Berlin.

Auch über den Zusammenhalt der Schweiz ist an den Von-Wattenwyl-Gesprächen diskutiert worden. Vor allem die Beziehungen zwischen Deutschschweiz und Romandie waren in den letzten Tagen durch verschiedene öffentliche Äusserungen strapaziert worden.

Wenn eine so wichtige Abstimmung so knapp ausfalle, sei es besonders wichtig, dass die verantwortlichen Leute der Parteien den Zusammenhalt intensivierten, mahnte der Bundespräsident. “Das wurde heute gemacht, und zwar von allen.”

swissinfo.ch: Droht die mehrsprachige Schweiz jetzt auseinanderzubrechen?

Georg Kohler: Wir haben zwei Hälften, eine ablehnende und eine befürwortende. Dass diese nur den Sprachgrenzen entlang verläuft, würde ich bestreiten. Auch die grossen Städte und bevölkerungsreiche Kantone der Deutschschweiz haben abgelehnt. Ausser in den ruralen Gebieten ist die Teilung stark ausgeprägt.

Ob das bedeutet, dass wir auseinanderfallen, das wage ich zu bestreiten, aber es ist ein Hinweis darauf, dass hier ein tief liegender Gegensatz erkennbar wird, der in unterschiedlicher Ausprägung quer durch das ganze Land geht.

Letzten Endes geht es um das, was man nationale Souveränität oder schweizerische Unabhängigkeit nennt, also um die Frage, wieweit wir meinen, dass wir Abhängigkeiten vom Umfeld unseres Landes in Kauf nehmen können oder nicht. Das ist der Gegensatz.

swissinfo.ch: Christoph Blocher wirft den Romands vor, sie kämpften zu wenig für die Unabhängigkeit der Schweiz. Was bedeutet denn nationale Souveränität?

G.K.: Es ist verständlich, dass sich die Romandie gegen diese Unterstellung wehrt und empört ist. Genf wollte nie zu Savoyen gehören und schon gar nicht zu Frankreich, sondern kam aus stolzem Souveränitätsbeispiel zur Schweiz.

Das, was die Schweiz zunächst zusammengehalten hat, nämlich die Tatsache, dass man nicht zu den grösseren Räumen, also zu den jeweiligen Nachbarländern gehören wollte, das ist überall vorhanden.

Nationale Souveränität? Da muss man unterscheiden: Es gibt den Mythos oder vielleicht sogar ein Phantasma von tapferen, kleinen Gruppen, die sich nicht unterkriegen lassen, niemanden angreifen und in ihrer Selbstbestimmung nicht beschränkt werden, also den Mythos der Innerschweiz oder des Dorfes von Asterix und Obelix.

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Aber der Mythos beisst sich mit den sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Schweiz lebt seit sehr langer Zeit in einer Illusion der grösstmöglichen Selbstbestimmung. Zur Souveränität gehörte einst das Recht auf Selbstverteidigung und auf Kriegserklärung. Das ist ja seit langer Zeit vorbei.

Die europäischen Staaten konnten sich ihr Recht auf Souveränität ja nur erhalten, indem sie sich in der Nato zusammengeschlossen haben. Die Schweiz hielt sich mit ihrer bewaffneten Neutralität da raus, war aber in Tat und Wahrheit nichts anderes als ein Trittbrettfahrer der Nato.

Die Idee der Selbstbestimmung, die vom Phantasma des gallischen Dorfes gelenkt wird, die passt nicht mehr zu den heutigen Realitäten, ist aber immer noch ganz stark im kollektiven Bewusstsein der Schweiz verankert.

Daran schliessen Blocher und die SVP an, aber weil der Widerstand der EU nun sichtbar wird, sind wir vor den grossen Entscheid gestellt, ob wir weiterhin diese Asterix-und-Obelix-Souveränität verteidigen oder uns damit einverstanden erklären wollen, dass diese Idee einer uneingeschränkten Souveränität heute schlichtweg nicht mehr möglich ist.

swissinfo.ch: Hat sich die Schweiz mit ihrem Ja zur so genannten Masseneinwanderung also gegen die EU entschieden?

G.K.: Exakt darum geht es. Es läuft auf die Alternative weitgehender Unabhängigkeit hinaus, mithin auch Abschottung von der EU mit allen Folgekosten, also sozialen und wirtschaftlichen Nachteilen, oder eben auf eine weitere Fortsetzung des bilateralen Weges, was auch mehr Integration und eine gewisse Einschränkung der direkten Demokratie bedeutet.

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swissinfo.ch: War es also ein Entscheid der Heidi-Schweiz gegen eine offene, globalisierte Schweiz?

G.K.: Es wäre falsch, jetzt zu sagen, dass nur Holzköpfe Ja gestimmt haben. Es gibt auch eine achtenswerte Besorgnis über die fortgesetzte Mobilisierung, über den anhaltenden Ressourcenverbrauch, also über all das, was mit der Progression dieser Gegenwartsmoderne zusammenhängt.

Die Lösung dieser Folgen ist aber letztendlich auch nur im Zusammenhang mit dem europäischen Umfeld anzugehen. Probleme bestehen, aber die Idee, sie mit einem Saisonnier-Statut und einer Reduktion des Familiennachzuges zu lösen, halte ich für eine Illusion, für die falsche Therapie.

swissinfo.ch: Das Abstimmungsresultat war denkbar knapp. Die Materie ist hoch komplex und die genauen Folgen sind noch nicht absehbar. Ist die direkte Demokratie an ihre Grenzen gestossen?

G.K.: Das würde ich so nicht sagen. Die direkte Demokratie hat den Vorteil, dass man Probleme, welche die Bevölkerung betreffen, sichtbar macht. Aber sie funktioniert nur, wenn man das, was aufgebrochen ist, weiter bearbeitet. Das traue ich dem System sogar zu.

Natürlich ist die direkte Demokratie anfällig für Populismen und Verführung. Es hat ja auch lange gedauert, bis das Frauenstimmrecht eingeführt worden ist. Das Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative war ein falscher Entscheid, aber man kann ihn korrigieren, denn die Umsetzung verlangt Entscheide, die noch einmal vors Volk müssen.

Wenn die Konsequenzen und die Tragweite der Initiative erst mal zum Vorschein kommen, dann kann ich mir vorstellen, dass die Zustimmung zu den Forderungen der Initiative wieder auf den harten Kern der Helveto-Fundamentalisten schrumpft, und das sind in der Schweiz höchstens 30%.

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