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Gesucht: Zuverlässige Wirtschaftsprognose

Börsenkurse selber studieren oder sich auf Prognosen verlassen? Keystone

2004 wird in der Schweiz wieder ein Wirtschafts-Wachstum erwartet. Doch über sein Ausmass sind sich die Prognostiker uneinig.

Denn jedes Institut arbeitet mit einer anderen Methode. Und Recht bekommt schliesslich niemand.

Keine Überraschung an der Front der Wirtschaftsprognosen: Wie üblich gehen die Voraussagen der Fachleute über das für 2004 erwartete Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) auseinander.

Laut der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich, KOF, sollen es 0,9% sein. Das Institut für angewandte Makroökonomie in Lausanne geht von 1% aus, das Basler Institut für Wirtschaftsforschung BAK von 1,3%. Das Staatssekretariat für Wirtschaft seco wiederum rechnet mit 1,5% und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD mit 1,9%. Wer hat nun Recht?

Unterschiedliche Bewertungsmethoden



Diese Unterschiede sind nicht verwunderlich. Jedes Institut wendet seine eigene analytische Methode an, und sie alle weisen unterschiedliche Bestandteile auf: Marktstatistiken, Umfragen, Modellbildung aufgrund des Verhaltens der Wirtschaft, Ökonometrie …

“Es gibt eine Menge ausgeklügelter Modelle, aber auch das spitzfindigste bringt nicht viel“, bemerkt der Globalstratege der Waadtländer Kantonalbank, Fernando Martins Da Silva.

Denn: “Der Zufall wird in diesen Modellen nie berücksichtigt.“

“Die Wirtschaft hängt auch von den Menschen ab, von Entscheidungen, die mit ihrer Psychologie zusammenhängen“, erklärt der Stratege. Dazu kommen externe Ereignisse (Erdölpreise, Wechselkurse, Attentate), welche die Zuverlässigkeit der Prognosen ebenfalls reduzieren.

Deshalb meint Da Silva, man solle nicht ausschliesslich auf die bezifferten Wirtschaftsprognosen gehen. Auch wenn sie zuverlässiger sind als die Voraussagen für die Börse.

Grosse Fehlerquote



Wirtschaftsprofessor Aurelio Mettei von der Universität Lausanne hat die Fehlerquote von zwanzig Jahren Wirtschaftsprognosen der wichtigsten Schweizer Institute errechnet.

Im Durchschnitt liegt diese Quote über einem Fehlerpunkt. Das heisst, wenn ein Institut ein Wachstum von 2% voraussagt, kann dieses sowohl unter 1% wie über 3% liegen.

Man könnte also für 2004 ebenso gut die Wachstumsrate von 2003 übernehmen. “Das Ziel ist“, erklärt Mattei, “bessere Prognosen zu machen. Sonst ist es unmöglich, die Trendwende zu identifizieren.“

Noch ungenauer sind die Prognostiker laut dem Lausanner Professor, wenn es um die erhofften Exporte oder die erwarteten Investitionen in Ausrüstungsgüter geht (2 bis 3 Fehlerpunkte!).

“In Bezug auf die Wirtschaftsprognosen müsste man deshalb von einem Wachstum zwischen 1 und 2 % sprechen, statt Dezimalstellen nach dem Komma anzugeben“, rät Mattei.

Beat Kappeler, der immer gern die Vorteile des Wettbewerbs rühmt, begrüsst jedoch die vielen Wirtschaftsprognosen in der Schweiz.

“Das ist eine wirkliche Dienstleistung für die Öffentlichkeit“, findet der Wirtschaftsjournalist. “Dank der grossen Zahl kann man sich ein durchschnittliches Bild machen. Und sie hilft den Prognostikern, effizienter zu werden.“

Vor allem die Tendenz



Denn Wirtschaftsprognosen sind trotz allem begründet. Dank ihr können die öffentlichen (Steuereinnahmen) und privaten Sektoren ihre Budgets erstellen, die Nationalbank kann ihre Währungspolitik ausarbeiten und die Finanzwelt ihre Investitionsstrategien entwickeln.

Trotzdem sind die Meinungen geteilt. “Wirtschaftsprognosen sind wertvoll, wenn man sich darauf beschränkt, die Tendenz zu betrachten“, findet der Wirtschaftsberater der Gewerkschaft SMUV. “Genaue Zahlen sind für mich nicht interessant.“

Bei seiner Arbeit berücksichtigt Jean-Pierre Ghelfi vor allem die Signale des Konsumklimas, die Entwicklung der Auftragsbücher der Unternehmen und den Vorlaufsindikator des Instituts KOF (der die Tendenz angibt).

Beat Kappeler dagegen leitet die künftige wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz eher von den amerikanischen und europäischen Zahlen ab.

Denn für eine kleine und so offene Wirtschaft kommen die Impulse von aussen (die Schweizer Exporte haben im November um 4,4% zugenommen!).

Aber auch der Wirtschaftsjournalist ist vorsichtig mit Zahlen. Umso mehr, als sich die wirtschaftlichen Prozesse wegen der Globalisierung mit Höchstgeschwindigkeit verändern.

So können die Unternehmen zum Beispiel ihre Preise nicht mehr selber festlegen, wie Kappeler feststellt. Deshalb ist die Entwicklung der Inflation weniger leicht absehbar.

Immer zufälliger



Und Fernando Martins Da Silva fügt hinzu: Seit Beginn des gegenwärtigen Wirtschaftszyklus sind Höhen und Tiefen der Konjunktur eher mit dem Überangebot als mit der Nachfrage (Konsum usw.) zu erklären.

Hier kommen zwei Phänomene zusammen. Zu den Überinvestitionen von Ende der 90er-Jahre kommt die Möglichkeit, alles überall zu produzieren (Outsourcing in China, Indien usw.).

“Die Volkswirtschaften reagieren nicht mehr so gut auf die Stimulierung durch tiefe Zinsen“, schliesst der Stratege. “Deshalb werden Wirtschaftsprognosen immer zufälliger.“

swissinfo, Pierre-François Besson
(Übertragung aus dem Französischen: Charlotte Egger)

Es ist wie beim Wetter: Je grösser der Zeitraum der Prognose, desto ungenauer ist diese. Für ein halbes bis ein ganzes Jahr kann sie richtig sein (wenn kein Schock von aussen eintritt), danach nimmt die Genauigkeit schnell ab.

“In Tat und Wahrheit können wir Trendwenden der Konjunktur, von einem starken Wachstum zu einer Verlangsamung und umgekehrt, nicht identifizieren. Es ist paradox, aber das ist das erste, was man von den Ökonomen wissen will. Ehrlicherweise müssten wir die Antwort darauf verweigern.” Dies meint Charles Wyplosz, Wirtschaftsprofessor am Hochschulinstitut für internationale Studien der Universität Genf (Institut universitaire de hautes études internationales).

Das Bundesamt für Statistik (BFS) hat die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung den europäischen Normen angepasst. Resultat: Daraus geht ein dynamischeres Bild der Schweizer Wirtschaft hervor, denn auf dieser Grundlage ist das BIP zwischen 1991 und 2002 um 1% (und nicht 0,8%) gewachsen.

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