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Gleichstellung: Ziel trotz Fortschritten noch weit entfernt

Chiara Simoneschi Cortesi fordert mehr Teilzeitstellen in Kaderpositionen. swissinfo.ch

Als Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen setzt sich Nationalrätin Chiara Simoneschi Cortesi seit Jahren für die Gleichstellung der Geschlechter ein.

Das Jahr 2006 war reich befrachtet an Jubiläen. Im Gespräch mit swissinfo analysiert Simoneschi-Cortesi die aktuelle Situation in der Gleichstellungsfrage.

Die Gleichstellung von Mann und Frau ist in der Bundesverfassung verankert. Seit 1996 ist das eidgenössische Gleichstellungs-Gesetz in Kraft. Dennoch bestehen weiterhin Ungerechtigkeiten.

Gemäss Chiara Simoneschi gibt es in Lohnfragen offensichtliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Trotz gleicher Voraussetzungen verdienen Frauen beim Staat 10% weniger Lohn als ihre männlichen Kollegen. In der Privatwirtschaft sind es sogar 20%.

swissinfo: Trotz Verfassungsartikel und Gleichstellungsgesetz gibt es diese Unterschiede. Wie erklären Sie sich das?

Chiara Simoneschi-Cortesi: Es ist nicht leicht zu verstehen, warum diese Ungleichheiten weiterhin bestehen. In einigen Fällen handelt es sich um echte Diskriminierungen. Die Realität ist äusserst komplex, weil soziale, kulturelle und wirtschaftliche Faktoren zusammenspielen.

Um Erklärungen für den heutigen Zustand zu finden, muss man sich mit der Organisation der Wirtschaft und der Gesellschaft sowie mit den jeweiligen Geschlechterrollen auseinandersetzen. Es zeigt sich: Da ist vieles grundsätzlich gleich geblieben wie in den Zeiten, als die Frau einzig als Hausfrau tätig war.

Die Gesellschaft hat sich nicht wirklich an die vielfältigen Aufgaben angepasst, die eine Frau heute in der Familie, im Berufsleben, in der Politik oder im Sozialen übernimmt. Auch die Aufgabenverteilung innerhalb der Familie hat keinen wirklichen Fortschritt gemacht.

swissinfo: In manchen Bereichen ist die Ungleichbehandlung sehr deutlich. Doch es gibt auch weniger sichtbare Bereiche.

C.S.C.: Das stimmt. Bleiben wir bei der der Arbeitswelt. Die Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen sind bekannt. Weniger sichtbar sind die versteckten Diskriminierungen. Stichwort: Aufstiegschancen und Karriere.

Der Aufstieg in Kaderpositionen ist für Frauen immer noch sehr schwierig. Die Organisationsstrukturen sind in der Hand von Männern. Und diese Strukturen verunmöglichen es vielen Frauen, in hohen Positionen als Entscheidungsträgerinnen zu arbeiten.

Der Weg zu Spitzenpositionen ist besonders schwierig, wenn Frauen Kinder haben. Ohne einen verständnisvollen und kooperativen Partner ist es fast unmöglich, Familie und Arbeit unter einen Hut zu bringen.

swissinfo: Ist der Mangel an qualifizierten Teilzeitstellen nicht eines der grossen Probleme in der Schweiz?

C.S.C.: Sicherlich. Die Schaffung von mehr Teilzeitstellen im Bereich mittlerer und höherer Kader wäre in der Tat wünschenswert. Es gibt diverse Studien, die aufzeigen, dass Teilzeitarbeit durchaus mit Führungspositionen vereinbar ist. Sogar aus den USA haben wir ermutigende Hinweise, die beweisen, dass Verantwortung geteilt werden kann.

Wenn man die Arbeitszeitmodelle anpasst und mehr Job-Sharing ermöglicht, könnte man Männern die Möglichkeit geben, mehr Verantwortung und Aufgaben zu Hause zu übernehmen, die Rollen zwischen den Partnern besser zu verteilen, ohne die Karriere zu opfern. Es liegt jedoch an der Wirtschaft, innovative Ideen aufzunehmen und diese in die Tat umzusetzen.

swissinfo: Einerseits anerkennen Wirtschaft und Politik die Wichtigkeit der Frauen, doch andererseits gibt es dann de facto eine Abwertung. Wie erklärt sich dieser Widerspruch?

C.S.C.: Es gibt kulturelle und mentale Faktoren, die von Vorurteilen geprägt sind. Dazu kommen Machtmechanismen, die alles noch komplizierter machen.

Es gibt nostalgische Männer, die fordern, dass Frauen an den heimischen Herd zurückkehren. Es gibt leider auch Frauen, die sich in Entscheidungspositionen befinden und trotzdem die Chancengleichheit nicht fördern. Männer haben häufig Angst vor Frauen, die für Emanzipation einstehen. Unverständnis und Ängste schaffen neue Vorurteile.

swissinfo. Wie kann man dies ändern?

C.S.C.: Männer und Frauen können die besten Partner auf dem Weg der Emanzipation und einer gerechteren Gesellschaft sein, wenn sie es nur wollen. Viele Männer sind leider auf der Stelle getreten, während die Frauen Schritte vorwärts machten, um ihre Rollensituation zu verändern.

Vielleicht sind die Männer noch nicht bereit, in eine neue Rolle als Vater und Partner zu schlüpfen. Aber es ist klar, dass tiefgreifende Veränderungen nicht über Nacht erfolgen. Es braucht Zeit und Geduld. Vielleicht dauert es ein paar Generationen. Trotzdem lohnt es sich, an die Gleichstellung zu glauben und daran zu arbeiten.

swissinfo-Interview: Françoise Gehring, Lugano
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Das Jahr 2006 war für die Frauenbewegung in der Schweiz reich an Jubiläen.

Erinnert wurde an:

35 Jahre Eidgenössisches Wahl- und Stimmrecht für Frauen

30 Jahre Kommission für Frauenfragen

25 Jahre Annahme des Verfassungsartikels zur Gleichberechtigung von Mann und Frau

15 Jahre nationaler Frauenstreiktag

10 Jahre Gleichstellungsgesetz.

In Gleichstellungsfragen spricht man immer häufiger von “gender”, weil dieser Begriff die soziale Identität von Männer und Frauen sowie ihre jeweiligen Rollen widerspiegelt.

Der Begriff unterscheidet sich von Geschlecht (Engl.: Sex), der die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau hervorhebt.

Als “Glasdecke” bezeichnet man unsichtbare Hindernisse oder komplexe gesellschaftliche, männerdominierte Vorgänge, die den Aufstieg von Frauen in wirklich prestigeträchtige Ränge erschweren.

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