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Die Zukunft sitzt bald auf der Nase

Reuters

Die tragbare Technologie Google Glass ist noch nicht auf dem Markt, doch Entwickler – darunter eine Handvoll in der Schweiz – sind bereits daran, Applikationen für das neue Gerät zu schreiben. Sie hoffen, damit von Beginn weg beim "nächsten grossen Ding" dabei zu sein.

Benoît Golay nimmt den Deckel von einer viereckigen weissen Kiste und gibt mir die futuristische Brille mit Metallrand und einem durchsichtigen Bildschirm auf der rechten Seite, kleiner als eine Briefmarke, in die Hände.

“Zugegeben, es erinnert ein wenig an Robocop”, lacht Golay, Business Development Manager am nicht gewinnorientierten Forschungsinstitut Icare in Siders.

Ich ziehe die Brille vorsichtig an und tippe an den Rahmen. Im kleinen Bildschirm erscheint die Meldung “OK Glass” wenige Zentimeter vor meinem rechten Auge. Noch einmal antippen oder “OK Glass” sagen, bringt ein Menu mit einer – momentan noch – kurzen Listen von Optionen auf den Bildschirm, wie etwa “fotografieren” oder “Route berechnen”.

Damit dies funktioniert, muss die Brille über WLAN-Drahtlosverbindung oder Bluetooth mit einem Smartphone verbunden sein. Das Gerät ist leicht, wie meine eigene Brille, und der Bildschirm schränkt mein Blickfeld nicht ein. Trotz aller Vorbehalte fühlt es sich nicht komisch an, das Teil zu tragen.

Diese frühe Version von Google Glass wird hauptsächlich von amerikanischen Testpersonen, Entwicklern und hartgesottenen Technologie-Fans benutzt.

Icare schaffte es letzten November, an diese Industrieversion zu gelangen. Möglich wurde es dank direkten Kontakten in die USA und der Berappung von 1500 US-Dollar (1300 Franken). Seither ist das Entwicklungsteam daran, das Potenzial dieses neuen Spielzeugs zu erforschen.

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So konnte Irace im Februar am Mobile World Congress in Barcelona bereits eine Applikation vorstellen, mit der Barcodes auf Verpackungen gescannt werden können, um verlässliche Informationen – Nährstoffgehalt oder Allergiewarnungen – über das Produkt zu erhalten.

Entwickelt wurde die App zusammen mit GS1, der Organisation zur Verbesserung von Wertschöpfungsketten, die das System der Barcodes von über einer Million Unternehmen auf Milliarden von Produkten weltweit bewirtschaftet, und der Open Mobile Alliance, der Organisation für Standards im Bereich Mobilfunk.

Mit der Brille von Google können Informationen aus dem Internet abgerufen werden. Gibt es keine Wireless-Verbindung, kann die Verbindung über das Smartphone aufgebaut werden.

Die Informationen erscheinen auf dem kleinen, durchsichtigen Bildschirm, der auf dem Brillengestell vor dem rechten Auge montiert und schwenkbar ist. Im rechten Bügel eingebaut sind ein Mikrofon für die Sprachsteuerung und ein Kopfhörer.

Gegenwärtig kann Glass fotografieren, Videos aufnehmen, E-Mails abrufen, “Google Now”-Informationen empfangen, genaue Wegbeschreibungen liefern, Anrufe via “Google+” machen und Informationen aus dem Internet abrufen.

Laut dem Internet-Riesen Google soll der Verkaufspreis unter den bisher angesetzten 1500 US-Dollar liegen, wenn das Gerät gegen Ende 2014 auf den Markt kommen soll. In Europa wird es 2015 erwartet.

Vermutlich wird Google mit seiner Brille eine Reihe von Konkurrenten erhalten, darunter Samsung und Microsoft, die laut Berichten an ähnlichen Technologien arbeiten.

Juniper Research, ein britisches, auf drahtlose Kommunikation spezialisiertes Forschungsunternehmen, schätzt, dass bis 2018 weltweit über 130 Millionen smarte, tragbare Geräte verkauft werden.

Smarte Brillen wie Google Glass sollen bis 2018 jährlich 10 Millionen Mal über den Ladentisch gehen. 2013 wurden 87’000 solche Geräte verkauft.

Gegenwärtig entsteht ein ganz neues Ökosystem für Glass-Apps. Bereits soll es über 100 verschiedene Apps für das Produkt geben, auch wenn Glass erst einer limitierten Zahl von Betatestern zugänglich ist (zwischen 40’000 und 60’000 Brillen sind im Testeinsatz, die meisten in den USA). Es wird erwartet, dass Google Glass Ende 2014 auf den Markt kommen soll.

So gibt es etwa Apps, die einen beim Einkauf beraten, die Geschwindigkeit auf dem Fahrrad messen, News anzeigen oder ganz einfach Spiele anbieten. Mit anderen kann der Kontostand auf der Bank abgefragt, ein fremdes Schriftzeichen entziffert oder ein Wecksignal ausgelöst werden, sollte der Träger am Steuer einschlafen.

Für App-Entwickler Golay gibt es aber noch viele schwarze Löcher. “Wir wissen nicht, wann genau Glass in Europa auf den Markt kommen wird. Wir wissen nicht, ob wir frei sind, Apps zu publizieren oder wie viele, ob es einen Glass Store für Apps geben wird oder Google dies bewirtschaften wird.”

Golay glaubt nicht, dass das Gerät ein Smartphone ersetzen wird, doch er ist überzeugt von dessen Potenzial. Glass könnte die ideale künftige Technologie werden, um Objekte zu identifizieren und gleichzeitig die dazugehörende Information zu liefern.

Die Computer-Brille, die sprachgesteuert und mit GPS, Gyroskop, Kompass und Wireless-Funktionen ausgerüstet ist, sei problemlos zu handhaben, ist Golay überzeugt.

Das Teil ist leicht und robust, doch noch gibt es einige grössere technische Begrenzungen, wie etwa der Akku hinter dem rechten Ohr, der laut Google 3-4 Stunden laufen soll, in Realität aber nur 1,5 Stunden läuft. Und wird die Brille intensiv genutzt, erhitzt sich die seitlich am Brillengestell angebrachte Steuereinheit.

“Es gibt auch Probleme mit der Kamera, da sie keinen Autofokus hat. Sie hat Mühe mit Objekten auf Distanz”, sagt der Icare-Manager. So darf ein Produkt zum Scannen des Barcodes nicht weiter als 25 Zentimeter vom Gesicht gehalten werden.

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Mit der Kamera und dem Autofokus kämpft Icare auch bei seiner zweiten App, mit der Autonummern identifiziert werden sollen, die aber nicht für die Polizei entwickelt werde, wie Golay betont. “Diese App wollen wir nicht vermarkten. Sie ist mehr eine technische Herausforderung.”

Siders scheint bereits zu einem Hub für Glass-Entwickler geworden zu sein. So arbeiten Teams an der Fachhochschule Westschweiz (HES-SO) an einer App für E-Learning und verschiedenen medizinischen Applikationen, die Ärzte bei der Untersuchung von Patienten unterstützen sollen.

uscsfhealth.com

“Man könnte Videos auf Glass schicken, damit sich die Ärzte ein Bild eines Unfalls machen können, beispielsweise, wie viele Verletzte es gegeben hat. Sie könnten dann die Operationssäle entsprechend vorbereiten”, sagt Henning Müller, Leiter der Abteilung E-Health an der Fachhochschule. Erste Prototypen solcher Apps sollen im Juni bereit sein.

In den USA haben Ärzte bereits begonnen, Gesundheitswesen-Apps auf Glass zu benutzen. Pilotprogramme, mit denen Live-Bilder und -Töne von Patienten von Glass auf Computer, Smartphones und Tablets übertragen werden, wurden bereits an der University of California getestet und sollen bald in südkalifornischen Polikliniken zum Einsatz kommen.

Letzten Dezember hat ein Herz-Thorax-Chirurg am UCSF Medical Center in San Francisco einen dreimonatigen Versuch mit Glass im Operationssaal abgeschlossen. Allerdings mit durchmischten Resultaten.

Kürzlich hat Google eine Liste von Verhaltensregeln für Entwickler herausgegeben, die Google Glass in der Öffentlichkeit tragen. Hier eine Auswahl.

“Wenn Du zu lange ins Prisma (Bildschirm) schaust, sieht das für die Leute um Dich herum vermutlich ziemlich unheimlich aus. Lies also nicht ‘Krieg und Frieden’ auf Glass.”

“Glass ist ein Technologie-Gerät, also brauche Deinen gesunden Menschenverstand. Wasserski, Rodeo-Reiten oder Ringen mit Glass auf dem Kopf sind vermutlich keine guten Ideen.”

“Wenn Du Dir Sorgen machst, dass jemand Dein romanisches Nachtessen in einem schönen Restaurant wegen einer Frage über Glass stören könnte, dann leg einfach die Brille ab.”

“Alleine in der Ecke eines Raumes zu stehen und Leute anzustarren, während dem Du sie mit Glass filmst, bringt Dir keine Freunde.”

(Quelle: Google)

Er erlebte sie als nützlich, wenn es um zusätzliche Informationen und die Konzentration auf den Patienten ging. Probleme gab es aber mit der Funkverbindung, Reaktionen auf Sprachbefehle, und oft war der Bildschirm schwer zu sehen. Bedenken hatte er auch wegen dem Schutz der Patientendaten und der Sterilisierung der Brille.

Der Datenschutz wird vermutlich für alle App-Entwickler in der Schweiz zum Hauptstreitpunkt werden. Letztes Jahr haben der Eidgenössische Datenschützer und Datenschutz-Regierungsvertreter einiger anderer Länder Google angeschrieben und ihre Bedenken über Glass geäussert.

Die Schweizer Behörden sind der Meinung, die Kamera und ihre Verbindung ins Internet seien problematisch, weil die geheime Aufnahme von Videos eine Verletzung von Privatsphäre und Intimität ist – und deshalb in der Schweiz verboten.

Ein Verbot ist jedoch nicht vorgesehen, und bei Übertretungen ist der Handlungsspielraum des Datenschutz-Beauftragten auf Datenspeicher-Unternehmen beschränkt.

Für Müller ist klar, dass die Apps seiner Abteilung medizinisch korrekt zertifiziert werden müssten, weil es deutliche Bedenken in Sachen Datenschutz gebe. “Und ganz klar dürften die Daten nicht mehr in einer Datenwolke von Google gespeichert werden”, betont er.

(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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