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Grosse deutsche Einheit und die kleine Schweiz

Seit dem 3. Oktober 1990 sind die beiden deutschen Staaten wieder vereint - nach 45 Jahren Trennung. Keystone

Friedliche Massendemonstrationen in der damaligen DDR führten 1989 zum Fall der Berliner Mauer und ein knappes Jahr später zur Wiedervereinigung Deutschlands. Die Auswirkungen dieses Ereignisses spürt auch die Schweiz.

“Ich lebe seit Januar 1991 im Osten Deutschlands und glaube, beurteilen zu können, ob es den Menschen heute besser geht als dazumal”, erklärt Peter S. Kaul, Schweizer Honorarkonsul in Dresden, gegenüber swissinfo.ch.

“In Bezug auf Infrastruktur, Wohnen, Wohnqualität, Lebensumstände geht es ihnen bedeutend besser”, sagt er überzeugt .

Trotzdem: Die deutsch-deutsche Wiedervereinigung ist nach der anfänglichen Euphorie einer gewissen Ernüchterung gewichen. So sieht laut einer von der deutschen Regierung veranlassten repräsentativen Umfrage des Emnid-Institus weniger als die Hälfte der Befragten in Deutschland keine Verbesserung ihres Lebensstandards seit der Wiedervereinigung.

Und jeder vierte Ostdeutsche ist der Ansicht, dass es den Menschen in der ehemaligen DDR besser gegangen sei als heute.

Weshalb beurteilen heute viele Ostdeutsche ihren Lebensstandard als schlechter? Peter S. Kaul weiss eine Antwort: “Aus meiner Sicht vermissen sie sehr stark das Menschliche. Die DDR-Gesellschaft hatte ein viel stärkeres Miteinander und Füreinander entwickelt. Teilweise aus der Not heraus, denn häufig herrschte Mangel an fast allem, also tauschte man Ware gegen Ware. Dadurch kam eine Zusammengehörigkeit zustande, die es in der Gegenwart nicht mehr gibt. Heute hat die Ellbogengesellschaft Einzug gehalten. Aber noch nicht so, wie wir es von den alten Bundesländern kennen.”

Er habe nie zu den Freunden der DDR gehört, sagt der sozialdemokratische Nationalrat Andreas Gross gegenüber swissinfo.ch. “Es war ein Unrechtstaat, und dessen Untergang freute mich sehr.”

Das heisse nicht, dass man die Vereinigung nicht als Integrationsprozess hätte verstehen können und müssen. “Statt dessen wurde Ostdeutschland durch Westdeutschland annektiert, was viele Ostdeutsche mit Recht als unverdiente Erniedrigung empfanden, die sie der Chance beraubte, Errungenschaften, die es ihnen wert schienen, auch in das neue Deutschland einzubringen”, sagt Gross, der die bilateralen Spannungsfelder durch seine Lehraufträge zur Direkten Demokratie im weltweiten Vergleich an der Universität Jena kennt.

Auswirkungen auf die Schweiz

“Das grössere Deutschland scheint vielen Schweizern noch mehr Angst zu machen als die BRD zuvor”, beurteilt Gross das Verhältnis der Schweizer zum “grossen Kanton”, wie Deutschland in der Schweiz oft bezeichnet wird.

“Das grössere Selbstbewusstsein der deutschen Regierung hat die Schweiz in der Flughafen- und der Steuerfrage schmerzlich erfahren; sie hat es verpasst zu fragen, ob Deutschland gesamteuropäische Interessen vertrat, was eigentlich aber der Fall ist” erklärt Gross weiter.

Gleiche Ängste – ähnliche Mentalität

“Vor lauter Ängsten merkten viele Schweizer nicht, dass die Ostdeutschen unter der Arroganz gewisser Teile der westdeutschen Eliten genau so litten wie sie. Deshalb sind die Schweizer übrigens sehr gerne gesehen in Ostdeutschland”, sagt Gross.

Dies bestätigt auch Peter S. Kaul. Für ihn sind die Sachsen den Schweizern in vielen Dingen sehr ähnlich. “Ihr Auftreten ist nicht so selbstbewusst, wie wir das von den Menschen aus den alten Bundesländern kennen. Hier wird eine Sache erst aus der Distanz beurteilt. Wenn man dann das Gefühl hat, das könnte gut sein, geht man es pragmatisch an. Aus diesem Grund fühlen sich viele Schweizer in den neuen Bundesländern so wohl.”

Ein weiteres Argument für das positive Image der Schweiz in Ostdeutschland sind wohl auch die Schweizer Unternehmen, die in dieser Region investiert haben: “Hier wurden Arbeitsplätze geschaffen und damit der wirtschaftliche Aufschwung mitgetragen”, sagt Kaul.

Andererseits haben auch die Schweizer Unternehmen profitiert, die nach der Wende nach Ostdeutschland gegangen sind. So konnten problemlos hochqualifizierte Arbeitskräfte rekrutiert werden, “da viele Staatsbetriebe ihre Tore schliessen mussten”, so Kaul.

Von den Ostdeutschen lernen

Aber auch die Schweizer könnten von den ostdeutschen Unternehmen profitieren, meint der Honorarkonsul. “Diese können mit Krisen besser als jene aus der Schweiz oder dem westdeutschen Raum umgehen, kennen sie doch seit der Wende eigentlich nichts anderes als Krisenstimmungen.”

Nein, Jammern höre man hier fast nicht. “Hier wird hart gearbeitet, und die Leute wissen, dass es ohne Leistung auch keinen Erfolg gibt. Die Menschen hier haben eine unglaubliche Innovationsfähigkeit.”

Tor zum Ost-Markt

“Ostdeutschland sehe ich heute vor allem als Tor zum EU-Ostmarkt”, sagt Kaul weiter. “Ich kann einem Schweizer Unternehmen nur empfehlen, wenn eine Investition in Russland, Polen oder der Ukraine vorgesehen ist, nicht direkt dorthin zu gehen.”

Es solle erst hier investieren und mit dem Knowhow der hiesigen Leute den Schritt in den Osten wagen. “Denn neben der guten Ausbildung kennen die Menschen hier die Mentalität der Osteuropäer, wissen, wie die denken und handeln. Für den Schweizer ist das oft sehr fremd.” (Mehr im Audio in der rechten Spalte).

Die friedliche Revolution, ein in der DDR 1989 und 1990 angestossener Prozess, führte am 3. Oktober 1990 zum Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zur Bundesrepublik Deutschland.

Dieser Tag wird auch als Ende des Kalten Krieges bezeichnet und als Tag der deutschen Einheit, als Nationalfeiertag begangen.

Nachdem sie Deutschland über 28 Jahre in zwei Staaten geteilt hatte, fiel die Berliner Mauer in der Nacht auf den 10. November 1989. Viele Ostberliner strömten in den ihnen so lange verbotenen Westen der Stadt. Die Bilder der Freudeszenen sind in die Geschichte eingegangen.

Die deutsche Wiedervereinigung war die Initialzündung, damit der in Ost und West geteilte Kontinent Europa zusammenwachsen konnte. Resultat: Die Europäische Union ist von 12 auf 27 Mitgliedsländer angewachsen, der Eiserne Vorhang ist gefallen.

Am 3. Oktober 1990 stimmten die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, die USA, die UdSSR, Grossbritannien, Frankreich sowie die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik dem “Vertrag über die abschliessende Regelung in Bezug auf Deutschland” zu. Dieser regelte den Beitritt der DDR zur BRD und gab dem vereinten Deutschland volle Souveränität.

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