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Gründungsmythos des Kosovo steht auf dem Spiel

Am Dienstag geht es in Strassburg auch um Vorwürfe gegen Kosovos Ministerpräsidenten Hashim Thaci. Keystone

Am Dienstag berät der Europarat über den Bericht von Dick Marty zum angeblichen Organhandel in Kosovo. Krimineller Machenschaften beschuldigt wird auch Ministerpräsident Thaci. NZZ-Journalist Andreas Ernst macht deutlich, wie wichtig eine Untersuchung für die Region wäre.

Europarat-Berichterstatter Dick Marty hat im Dezember 2010 einen Bericht über mutmasslichen Organhandel der kosovarischen Befreiungsarmee UCK publiziert. Über die heftigen Reaktionen zeigte sich der freisinnige Tessiner Ständerat überrascht, da die Vorwürfe ja nicht neu seien.

swissinfo.ch: Wie erklären Sie sich diese Vehemenz der Reaktionen, die ja nicht nur aus Kosovo, sondern auch aus Albanien und von Albanern aus Makedonien und der Schweiz kommen?

Andreas Ernst: Die meisten Albaner kennen den Bericht nur aus den Medien. Die albanisch-sprachigen Medien haben ein äusserst negatives Bild dieses Berichts und auch von Dick Marty persönlich gezeichnet. Er gilt im albanisch-sprachigen Raum als Albaner-Hasser.

Diese Verzerrung hat er durch ein langes Fernseh-Interview letzte Woche zu korrigieren versucht. Aber sein Image ist im Moment schlecht und wird es wohl bleiben. 

swissinfo.ch: Auch wir haben viele teils sehr aggressive Kommentare auf unsere Berichterstattung erhalten. Erstaunt Sie dies, oder sind solche Reaktionen typisch für die Region?

A.E.: Nein, es erstaunt mich nicht, aber das hat mit dem Balkan weniger zu tun, als man auf den ersten Blick meinen könnte.

Tatsache ist, dass Marty mit seinem Bericht das verbreitete Bild des Befreiungskriegs der UCK in Frage stellt. Im albanischen Selbstbild ist dies ein gerechter und ein sauberer Krieg: Es gab ein Tätervolk, nämlich die Serben, und ein Opfervolk, die Albaner.

Dieses Bild ist Teil des kosovarischen Gründungsmythos. Und wer ihn in Frage stellt, provoziert heftige Reaktionen.

Diese Heftigkeit ist nicht einfach eine balkanische Eigenschaft: Wenn man an die Diskussionen um die Vichy-Kollaboration in Frankreich denkt oder an die Reaktionen in der Schweiz über die nachrichtenlosen jüdischen Vermögen, ist es eigentlich nicht überraschend, dass auch die Kosovaren heftig reagieren, wenn ihr Geschichtsbild infrage gestellt wird.

Überraschend und vielleicht auch typisch für die albanische Gesellschaft ist hingegen die Einstimmigkeit der Reaktionen. Es gibt sehr wenige differenzierende Gegenstimmen auf die totale Ablehnung des Berichts. 

swissinfo.ch: Ist es gar nicht möglich, abweichende Meinungen zu äussern, weil dann das Regime in Frage gestellt würde?

A.E.: Damit ist grundsätzlich die Frage nach der Meinungsäusserungsfreiheit in Kosovo gestellt. Die ist verfassungsmässig garantiert, aber in der Praxis sehr unvollständig.

Die Medien werden sehr stark durch die Politik kontrolliert; das Inserate-Aufkommen hängt stark von Regierungsaufträgen ab. Das bedeutet, dass viele Medien sehr gouvernemental berichten. Und das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist faktisch ein Staatsfernsehen.

Zudem herrscht in Kosovo ein hoher Konformitätsdruck. Wenn jemand bei nationalen Themen den herrschenden Kanon in Frage stellt, wird er sehr schnell als Verräter taxiert.

swissinfo.ch: Gibt es denn gar keine Leute in Kosovo, die dem Marty-Bericht zumindest teilweise Glauben schenken?

A.E.: Es gibt zweifellos Leute, die dem Bericht zumindest zum Teil glauben. Viele wissen, dass die UCK auch Albaner umgebracht hat, aber jetzt, wo Kosovo so unter Druck steht, erfolgt ein Schulterschluss. Einerseits aus Solidarität, aber auch aus Konformismus und Angst.

Was es gibt und immer gab, ist eine starke Kritik an Thaci. Aber sie bezieht sich nicht auf die Kriegsvergangenheit und nicht auf die Vorwürfe, die im Marty-Bericht erhoben werden, sondern vor allem auf die weitverbreitete Korruption während seiner Regierungszeit.

swissinfo.ch: Wieso hört man kaum etwas von Seiten der serbischen Minderheit in Kosovo?

A.E.: Die Serben in den Enklaven, also im Süden, sind umgeben von albanischen Siedlungsgebieten und versuchen sich mit dem kosovarischen Staat zu arrangieren. Sie halten sich bedeckt und schweigen.

Die Serben im Norden, deren Dörfer direkt an Serbien angrenzen, lehnen nicht nur Thaci, sondern den kosovarischen Staat überhaupt ab. Sie vertreten die gleiche Position wie Serbien, das davon ausgeht, dass eigentlich alles schon bewiesen sei.

swissinfo.ch: Am Dienstag debattiert der Europarat in Strassburg über den Marty-Bericht. Mit welchen Reaktionen ist zu rechnen, sollte der Bericht verabschiedet werden?

A.E.: Eine Verabschiedung würde als Propagandasieg der pro-serbischen Kräfte aufgefasst. Aber man wird sich weiterhin für eine Untersuchung der Vorwürfe gegen Thaci und andere offen erklären, Thaci selber hat dies ja mehrfach gesagt.

Weil es aber keinen ausreichenden Zeugenschutz gibt, besteht die Gefahr, dass viele der Vorwürfe einfach im Raum stehen bleiben. Kosovo hätte dann auf Dauer ein Image-Problem.

swissinfo.ch: Dann ist Kosovo, oder zumindest die Bevölkerung, daran interessiert, dass die Vorwürfe untersucht werden?

A.E.: Absolut. Es gibt wohl niemand, der daran nicht interessiert sein könnte, ausser den Tätern, wenn es sie denn gibt.

Sollte die Untersuchung aber wegen fehlendem Zeugenschutz im Sand verlaufen, wäre das eine sehr negative Entwicklung. Denn es ist in Kosovo wie in allen Balkanländern an der Zeit, kollektive Vorurteile abzubauen und gerade in Bezug auf Kriegsverbrechen nicht Täter und Volksgruppen gleich zu setzen.

Täter haben einen Namen und einen Vornamen. Es ist für die Bevölkerung dieser Länder sehr wichtig, dass die Taten individuell zugerechnet werden, um die langfristige Versöhnung und das Zusammenwachsen dieser Regionen zu fördern.

Die Schweiz gehört zu den wichtigsten Geberländern des Kosovo.

Zwischen 1999 (Konflikt zwischen Serben und Kosovaren) und 2010 steuerten die Schweizer Behörden rund 200 Mio. Franken zur Entwicklung, politischen Stabilität und Wirtschaft bei. 

Seit 1999 beteiligt sich die Schweiz an der Mission der internationalen Friedenstruppe KFOR unter Leitung der NATO.

Jedes Jahr sind gegen 220 Schweizer Swisscoy-Soldaten in Kosovo stationiert. 

Die Schweiz hat Kosovo bereits zehn Tage nach der Unabhängigkeits-Erklärung vom 17. Februar 2008 als neuen Staat anerkannt.
 
Auch hatte sie sich als eines der ersten Länder schon 2005 für die Unabhängigkeit des Landes ausgesprochen.

Zu der raschen Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos durch die Schweiz trug auch die grosse Zahl von Kosovaren in der Schweiz bei.

Rund 170’000 Kosovaren leben in der Schweiz, das sind etwa 10% der Bevölkerung Kosovos.

Der heutige Ministerpräsident und Mitbegründer der Kosovo Befreiungsarmee UCK hat mehrere Jahre in der Schweiz gelebt.

1995 wurde ihm in der Schweiz politisches Asyl gewährt, anschliessend studierte er an der Universität Zürich südosteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft.

Von Zürich aus war Thaci massgeblich am Aufbau der UCK beteiligt. 1998 kehrte er nach Kosovo zurück.

Gemäss einem Bericht der Sonntagszeitung besitzen zwei enge Vertraute von Hashim Thaci eine Schweizer Niederlassungsbewilligung und können sich damit in der Schweiz und in anderen Schengen-Ländern frei bewegen.

Das Bundesamt für Migration bestätigte, dass Azem Syla und Kadri Veseli einen C-Ausweis besitzen.

Syla war früher Verteidigungsminister und wurde jetzt ins Parlament gewählt.

Veseli wirkte im Kosovo-Krieg als Chef des UCK-Geheimdienstes.

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