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Hat “Swissness” an der Uni ausgedient?

Schweizer Themen gefragt - Schweizer Nationalgeschichte nicht: Studierende an der Universität Zürich. Keystone

An der Universität Zürich wird das Hauptfach Schweizergeschichte abgeschafft. Sie wird künftig nur noch als Nebenfach angeboten.

Gleichzeitig lehren in Zürich immer mehr deutsche Professoren. Ist der Stellenwert der Schweiz an der Uni in Gefahr?

Von den 1300 Geschichts-Studierenden an der Universität Zürich belegen zur Zeit gerade mal 3 Schweizergeschichte als Hauptfach. In der Vergangenheit war die Zahl ähnlich klein, das Maximum waren 5. Im neuen Bologna-System braucht es für einen Hauptfach-Studiengang mindestens 20 Studierende.

Bis in einem Jahr müssen sämtliche Fakultäten die Bologna-Reform umgesetzt haben, die das Lizentiatssystem abschafft und stattdessen einen Bachelor- und einen Master-Studiengang nach angelsächsischem Vorbild einführt. Die Bologna-Reform zwingt die Universitäten, die Angebote der einzelnen Institute zu überdenken und die Studienpläne neu zu gestalten.

Schweizer Themen gefragt – Nationalgeschichte passé

Aus den mageren Zahlen in der Belegung des Hauptfachs Schweizergeschichte zu schliessen, dass Swissness nicht mehr gefragt ist, sei falsch, sagt Jakob Tanner, Professor am Historischen Seminar der Universität Zürich, gegenüber swissinfo. Schweizer Themen seien nach wie vor beliebt. Von den vier Dissertationen und acht Lizentiatsarbeiten, die er dieses Semester begutachtet, sind alle Themen gewidmet, die mit der Schweiz zu tun haben.

“Was allerdings nicht mehr gemacht wird, das ist Schweizergeschichte unter der nationalen Käseglocke. Es gilt, mit theoretischen Ansätzen und methodischen Verfahren zu arbeiten, die international diskutiert werden. In diesem Sinne ist die Geschichte nicht mehr national. Das ist wichtig und richtig”, so Tanner.

Im gesellschaftlich-politischen Klima nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich das Fach Schweizergeschichte zu einer patriotischen Nationalgeschichte verfestigt.

Berufliche Verbauung, zu enge Qualifikation

Für Mittelalterhistoriker Roger Sablonier ist Schweizergeschichte “bloss eine überflüssige Fachbezeichnung, die in keiner Weise die tatsächlichen Studienmöglichkeiten betrifft”. 80% der Lizentiatsarbeiten im Rahmen der Allgemeinen Geschichte enthielten Schweizer Themen, sagt der Historiker gegenüber swissinfo.

Für Sablonier gibt es für die Kleinstzahl der Studierenden, die in den letzten 20 Jahren das Hauptfach Schweizergeschichte und schweizerische Verfassungskunde –so die exakte Bezeichnung – belegten, einen wichtigen Grund: Das Fach wird nicht akzeptiert für das sogenannte Höhere Lehramt (Lehrbefugnis an Mittelschulen).

Das sieht auch Sabloniers Kollege Tanner so: Die verschwindend kleine Zahl hänge damit zusammen, dass man sich mit Schweizergeschichte den Zugang zum Schulunterricht in Gymnasien verbaue und auch sonst eine zu enge Qualifikation aufweise. “Die Universität kann nicht aus national-ideologischen Gründen ein Hauptfach aufrechterhalten, das von Studierenden gegen Null nachgefragt wird.”

Ähnlich wie der Schweizergeschichte ergeht es auch der Schweizerliteratur: Was am Deutschen Seminar lange als selbstverständlicher Gegenstandsbereich galt, wird heute in Frage gestellt. Literatur wird heute mehr als “transnationales Ereignis” aufgefasst.

“Verdeutschung” des Lehrkörpers?

Das Problem der “Swissness” an der Uni wird in der öffentlichen Diskussion oft mit der akademischen “Ausländerfrage” verknüpft. An vielen Seminaren sind deutsche Professorinnen und Professoren in der Mehrheit. Gewisse Kreise sprechen gar von einer “Verdeutschung” des Lehrkörpers.

Das Gerede von “Deutsche schaffen Schweizergeschichte ab” ist für Jakob Tanner “ein Ausdruck unreflektierter Fremdenfeindlichkeit”. Die ausländischen Kollegen arbeiteten ebenso mit Quellen aus der Schweiz, sie würden hier Forschung betreiben.

“Dass sie neue Aspekte einbringen, ist wichtig. Geschichtsschreibung ist nicht Heimattümelei – der Schweizer Nachwuchs hat das längst begriffen und profiliert sich international. Wer immer nur vor Ort arbeitet, ist nicht kompetitiv”, so Tanner weiter.

“Verdeutschung” des Lehrkörpers ist für Roger Sablonier ein polemisches Schlagwort. “Das suggeriert ja auch eine bestimmte Ausrichtung der Inhalte und der Lehrmethoden. Und das ist wenig der Fall, die meisten der deutschen Kolleginnen und Kollegen sind sehr interessiert daran, unsere Verhältnisse weiter zu führen.

Defizite bei der Nachwuchsförderung

Natürlich sei der Anteil deutscher Kolleginnen und Kollegen relativ hoch, sagt Sablonier. “Das hängt zum Teil damit zusammen, dass die Nachwuchsförderung in der Schweiz schlecht und jener in Deutschland unterlegen ist. Wir haben also kein Ausländerproblem, sondern ein Nachwuchsproblem. Und dies vor allem wegen der fehlenden finanziellen Mittel.”

Auch Tanner spricht von Nachwuchsproblemen. Der Mittelbau sei wegen der hohen Studierenden-Zahlen stark belastet, und die Berufsperspektiven seien in einer wichtigen Lebensphase unsicher. “Die Habilitation ist noch immer ein Wagnis.”

Das seien allerdings keine “einheimischen” Probleme – dasselbe höre man in Bochum, Bielefeld, etc. “Dass Schweizer Nachwuchsakademiker in der Geschichte ein spezifisches Problem haben sollen, welches mit einem fehlenden Interesse für ‘Swissness’ zusammenhängt, ist Unsinn”, sagt Tanner. “Das gibt es nicht.”

swissinfo, Jean-Michel Berthoud

Die Universität Zürich in Zahlen:
Anzahl Studierende Winter-Semester 04/05: 23’421 (53,5% weiblich)
Fakultäten absolut in %:
Theologische Fakultät: 232 (1,0%)
Rechtswissenschaftliche Fakultät: 3488 (14,9%)
Wirtschafts-wissenschaftliche Fakultät: 3347 (14,3%)
Medizinische Fakultät: 2311 (9,9%)
Vetsuisse-Fakultät: 661 (2,8%)
Philosophische Fakultät: 10’852 (46,3%)
Mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät: 2530 (10,8%)

Der Bolognaprozess, am 19. Juni 1999 mit der Unterzeichnung der Erklärung von Bologna formell eingeleitet, soll die Mobilität der Studierenden und die Zusammenarbeit zwischen den europäischen und internationalen Ausbildungsstätten nachhaltig verbessern.

Übergreifende Ziele wie Transparenz und Vergleichbarkeit im Interesse der europaweiten Mobilität bestimmen die meisten Reformen: Die Studienprogramme werden modernisiert, ein zweistufiges Studiensystem und ein transparentes Leistungspunktesystem werden eingeführt, um die gegenseitige Vergleichbarkeit von Studienabschlüssen zu erleichtern.

Die Schweiz hat sich mit 29 weiteren europäischen Ländern verpflichtet, die Ziele der Erklärung von Bologna bis 2010 umzusetzen.

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