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Hohe Haftstrafen im Asbest-Prozess

Richter Giuseppe Casalbore verliest am Montagnachmittag das Urteil. AFP

Ein Gericht in Turin hat die beiden ehemaligen Mitbesitzer der Eternit S.p.A. (Genua), den Schweizer Stephan Schmidheiny und den belgischen Baron Jean-Louis de Cartier, zu 16 Jahren Gefängnis und zur Zahlung von Schadenersatz in Millionenhöhe verurteilt.

Die Verteidigung hatte einen Freispruch verlangt. Die Anklage gegen die beiden Unternehmer lautete auf vorsätzliche Tötung in rund 3000 Krankheits- und Todesfällen sowie auf Verursachung einer Umwelt-Katastrophe.

Der Mammutprozess hatte am 10. Dezember 2009 vor dem Strafgericht der norditalienischen Grossstadt Turin begonnen.

Dabei ging es um die Frage, wer für Sicherheitsmängel in vier italienischen Eternit-Werken verantwortlich war in einem Zeitraum zwischen 1966 bis zum Konkurs der italienischen Holding 1986.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft hatten Schmidheiny und de Cartier das Sagen in den italienischen Werken.

Verbote

Asbest war Anfang der 1960er-Jahre erstmals von Ärzten in Zusammenhang mit der neuen Krebsform Mesotheliom gebracht worden. 1975 verbot Schweden den Einsatz von Asbest, die USA jenen von Spritzasbest. 1977 wird in der Schweiz die Verwendung von Spritzasbest eingestellt.

Ab 1992 beginnen in Italien straf- und zivilrechtliche Prozesse wegen gesundheitlicher Schädigung von Eternit-Arbeitern. Im gleichen Jahr verbietet Italien die Asbestverarbeitung. 1995 wird auch in der Schweiz der Einsatz von Asbest verboten, 2005 erlässt die Europäische Union (EU) ein generelles Asbest-Verbot.

Staatsanwalt: “Tod in Kauf genommen”

Schmidheiny und de Cartier waren bei der Urteilsverkündung nicht anwesend. Staatsanwalt Raffaele Guariniello beschuldigt die beiden Angeklagten, absichtlich die Sicherheit in den Eternit-Werken vernachlässigt und damit asbestbedingte Erkrankungen und Todesfälle in Kauf genommen zu haben.

Schmidheiny hatte den Betroffenen und der Gemeinde Casale Monferrato, Sitz einer Eternit-Produktionsstätte, eine Entschädigung angeboten, die abgelehnt wurde. Allein in Casale sollen 1800 Menschen an Asbest-Vergiftungen gestorben sein und jährlich 50 Fälle hinzukommen.

Die Verteidigung beklagte, der Prozess in Turin sei unfair: Unter anderem habe die Anklage den Verteidigern eine Einsicht in Krankenakten der Opfer verweigert, indem die Staatsanwaltschaft diese nicht als Beweise eingebracht habe. Auf diesen Akten beruhten jedoch Gutachten, die im Prozess eine zentrale Rolle gespielt hätten.

Hoher Schadenersatz

Zusätzlich zur Haftstrafe von je 16 Jahren wurden die beiden Angeklagten dazu verurteilt, 25 Mio. Euro an die Gemeinde Casale Monferrato, 20 Mio. Euro an die Region Piemont und 15 Mio. Euro an die Inail zu zahlen, die staatliche italienische Unfallversicherung. De Cartier muss ausserdem der Gemeinde Cavagnolo 4 Mio. Euro Schadenersatz zahlen.

Ausserdem müssen die beiden Unternehmer zwischen 70’000 und 100’000 Euro an acht Organisationen bezahlen, darunter Gewerkschaften und der WWF.

Die Asbestopfer und ihre Familien sollen Schadenersatzzahlungen in der Höhe von mehrheitlich zwischen 30’000 und 35’000 Euro erhalten. Dies geht aus der vom Gerichtspräsidenten vorgelesenen Liste hervor.

Urteil wird angefochten

Für die Verteidigung von Stephan Schmidheiny sei dieses Urteil völlig unverständlich, schreibt sein Sprecher Peter Schürmann in einer Medienmitteilung. Deshalb werde es an die nächsthöhere Instanz weitergezogen.

Die Verarbeitung von Asbest erreichte in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre mit 5 Mio. Tonnen den Höhepunkt. Mit 22’700 Tonnen wurde gegen Ende jenes Jahrzehnts am meisten Asbest in die Schweiz importiert.

Trotz seiner Schädlichkeit wird Asbest in vielen Ländern immer noch eingesetzt. 2007 wurden laut Angaben des United States Geological Survey 2 Mio. Tonnen verbaut.

Der grösste Verbraucher ist China (30%), gefolgt von Indien (15%), Russland (13%), Kasachstan und Brasilien (je 5%).

Die Internationale Arbeits-Organisation (ILO) schätzt, dass heute weltweit zwischen 100’000 und 140’000 Personen pro Jahr wegen Kontakt mit Asbest sterben.

Laut einer Studie der Europäischen Union wird das Material in Europa bis 2030 eine halbe Million Opfer gefordert haben.

Die “Wunderfaser”, wie sie oft genannt wurde, hatte ihren Zenit in den 1970er-Jahren. Zu jener Zeit existierten etwa 3000 Produkte aus Asbest.

Die Schweiz war ein wichtiger Hersteller: Im glarnerischen Niederurnen hatte die Eternit-Gruppe der Familie Schmidheiny ihren Hauptsitz und eine Fabrik, eine weitere im waadtländischen Payerne.

In ihren besten Zeiten kontrollierte Schmidheinys Amiantus Holding AG Fabriken in 16 Ländern auf der ganzen Welt mit insgesamt 23’000 Angestellten.

In den Büros der Eternit war seit 1929 auch das Kartell der Asbest-Zementproduzenten (SAIAC) untergebracht.

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