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So funktioniert ein Schweizer Gericht

Ein Polizist zeigt einem kleinen Jungen und dessen Vater Handschellen.
Ein Polizist zeigt einem kleinen Jungen und dessen Vater Handschellen. swissinfo.ch

Der Schweizer Justiz wird häufig mangelnde Transparenz vorgeworfen. Im Kanton Bern geht man neue Wege: An einem Tag der offenen Tür wird der Öffentlichkeit der Gerichtsalltag präsentiert. Ein Erfolgsrezept?

Trotz strahlendem Frühsommerwetter strömen an diesem Samstag zahlreiche Besucher an die fiktive Gerichtsverhandlung in Burgdorf (Kanton Bern). Der Andrang ist so gross, dass manche Besucher abgewiesen werden müssen.

Schweizer Rechtssystem

In westlichen Ländern gibt es zwei hauptsächliche Rechtsfamilien: das angelsächsische Rechtssystem (Common Law) und das kontinentaleuropäische Rechtssystem (Civil Law). Im Common Law hat der Richter eine zentrale Rolle, er schafft neues Recht durch Präjudizien. Im Civil Law ist hingegen das geschriebene Recht wichtiger, das der Richter bloss auf den Einzelfall anwendet. Das Schweizer Rechtssystem gehört zur kontinentaleuropäischen Rechtstradition.

Nur halb so schlimm: Der Tag der offenen Tür am Regionalgericht Emmental-OberaargauExterner Link hat genug anderes zu bieten. In einem Raum erklären Fachleute, wie Kinder einvernommen werden, beispielsweise wenn die Eltern streiten. 

In einem anderen Raum gibt es kostenlose Rechtsberatung. Und von Staatsanwälten erfährt man, wie häufig in der Schweiz kriminelle Taten begangen werden – mehr als viele Besucher gedacht hätten.

Nüchtern “betrunken” Auto fahren

Auch für die zahlreich erschienenen Kinder gibt es Attraktionen: Sie können draussen Fahrzeuge und Ausrüstung der Polizei besichtigen. Wie wär’s mit Handschellen umlegen? Oder wie fühlt es sich an, betrunken Velo oder Auto zu fahren? Ein spezielles Sichtgerät macht es möglich, diese Erfahrung auch ohne Alkoholkonsum zu machen.

Rücksitz eines Polizeiautos
Wie sieht es in einem Polizeiauto aus? Am Tag der offenen Tür des Regionalgerichts Emmental-Oberaargau konnten Besucher unter anderem Polizeifahrzeuge besichtigen. swissinfo.ch

In einem Raum werden Schulungsvideos der Polizei gezeigt, mit denen die Leute testen können, ob sie gute Zeugen abgeben würden. Eine Schlägerei – konnten Sie sich merken, wie viele Personen beteiligt waren? Ein junger Mann sprayt Wände voll – welche Farbe hatte seine Jacke? Und was hat die wütende Frau in der Hand? Ein Messer! Ach nein, es ist eine Schere… Was einfach klingt, ist alles andere als einfach: Wer nicht im Voraus weiss, worauf zu achten ist, vergisst Details oder täuscht sich. Die Erkenntnis daraus: Manche Zeugenaussagen vor Gericht sind deshalb mit Vorsicht zu geniessen.

Für den künstlerischen Aspekt zogen die Organisatoren das Literaturfestival “Burgdorfer KrimitageExterner Link” zu Hilfe. Slam-Poet und Liedermacher Peter HeinigerExterner Link liest unter anderem “Miniatur-Krimis” vor. Das geht etwa so: “Am Dani ist sein Selbstwertgefühl abhandengekommen. Für sachdienliche Hinweise bitte melden.” Oder (und das sei eine wahre Geschichte): “Bei mir im Garten liegt der Hund vergraben.”

Gegen Geheimjustiz

In den letzten Jahren wurde immer wieder der Vorwurf geäussert, in der Schweiz sei eine GeheimjustizExterner Link auf dem VormarschExterner Link. Die Medien werfen den Gerichten in verschiedenen Bereichen mangelnde TransparenzExterner Link vor: Die Verhandlungen würden teilweise mangelhaft angekündigt, in manchen Kantonen müssten Journalisten aufwändige und teure Zulassungsverfahren durchlaufen, der Persönlichkeitsschutz von Beschuldigten werde überhöhtExterner Link, die Einsicht in UrteileExterner Link werde erschwert oder ganz vereiteltExterner Link.

Die Flucht nach vorn tritt nun die Berner Justiz an: Als zweites Gericht im Kanton Bern hat das Regionalgericht Emmental-Oberaargau einen Tag der offenen Tür durchgeführt. Damit soll der Bevölkerung gezeigt werden, was ein Regionalgericht macht. Regionalgerichte – in manchen Kantonen heissen sie auch Bezirksgerichte, Kreisgerichte oder Kantonsgerichte – sind als erste Instanzen für Zivil- und Strafsachen in einem bestimmten Bezirk zuständig und haben somit den unmittelbarsten Kontakt zur Bevölkerung.

Roland Richner, Gerichtspräsident am Regionalgericht Emmental-Oberaargau, erklärt: “Die Idee des Tags der offenen Tür ist, sich zu öffnen. Wir wollen keine Kabinettsjustiz sein.” Die Verfahren würden immer länger und komplizierter. Kaum ein Bürger setze sich deshalb in eine Gerichtsverhandlung. “Zudem wird heute vieles über den Strafbefehl erledigt.”

Über 90 Prozent der Strafurteile in der Schweiz werden in Form eines “Strafbefehls” gefällt. Gemäss Schweizer RechtExterner Link haben Staatsanwälte die Kompetenz, eine Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten und Geldstrafen sowie Bussen auszusprechen. Strafbefehle werden schriftlich und ohne Begründung per Post zugestellt. Eine öffentliche Verhandlung findet nicht statt.

Wie werde ich in der Schweiz Richter?

Weil die Schweiz ein Bundesstaat ist, sind die Gerichte auf verschiedenen Ebenen angesiedelt: Es gibt regionale Gerichte (Bezirksgerichte), Kantonsgerichte und eidgenössische GerichteExterner Link (Bundesgericht, Bundesstrafgericht, Bundesverwaltungsgericht, Bundespatentgericht).

In den meisten Kantonen können Laien vom Volk als Friedens- oder Laienrichter an erstinstanzliche Gerichte gewählt werden. Sie brauchen dafür keine bestimmte Vorbildung. Meist sind sie nebenberuflich tätig.

Wer Berufsrichter werden möchte, muss in vielen – aber nicht allen – Kantonen ein Jurastudium absolvieren. Fast zwingend ist eine Parteizugehörigkeit: Die Kandidaten werden von einer Partei vorgeschlagen und von Volk, Parlament oder Regierung gewählt. Bei oberen Instanzen ist es üblich, dass die Kandidaten mehrjährige Berufserfahrung an Gerichten, in Anwaltskanzleien oder auf einem Notariat sowie ein Anwaltspatent vorweisen können.

Wie weit soll die Öffentlichkeit gehen?

Wie also erfährt die Bevölkerung noch, welches Recht Schweizer Richter sprechen? Die Medien übernehmen mit ihrer Berichterstattung eine gewisse Vermittlerrolle. Doch in der Schweiz ist man sehr restriktiv: Film- und Bildaufnahmen sind in Gerichtsgebäuden generell untersagt. “Eine Gerichtsverhandlung soll nicht zur Sensation gemacht werden”, erklärt Richner. “Es ist eine zu ernste Sache.” Er erinnert an den Persönlichkeitsschutz aller Beteiligten. Und: “Es wäre nicht gut, wenn man sich als Richter vorteilhaft darzustellen versuchte.” Mit anderen Worten: Der Richter soll sich seriös mit dem Fall befassen, statt sich in Szene zu setzen.

In den USA ist es hingegen gang und gäbe, dass jedes im Gerichtssaal gesprochene Wort auf Video gebannt und öffentlich gemacht wird. In der Schweiz spricht man zuweilen naserümpfend von “angelsächsischen Verhältnissen”, die man auf keinen Fall in die Schweiz importieren will.

Richner bestätigt einen gewissen Kulturunterschied in dieser Frage. “Die USA haben ein anderes Rechtssystem. In der Schweiz sind wir kontinental geprägt, das Verfahren ist hier kein Spektakel.”  (siehe Box) Im amerikanischen Rechtssystem sind die Argumente von Staatsanwaltschaft und Verteidigung zentral, der Richter nimmt eher die Position eines Schiedsrichters ein. Entsprechend wichtig ist, was vor Gericht gesagt wird.

Was nicht heisst, dass eine Schweizer Gerichtsverhandlung langweilig wäre – wie der Grossandrang in Burgdorf zu bestätigen scheint. Richner ist selbst etwas überrascht vom grossen Interesse der Bevölkerung am Tag der offenen Tür. 

Wie werde ich in der Schweiz Anwalt?

Wer in der Schweiz Anwalt werden will, muss zunächst ein Studium der Rechtswissenschaften mit dem Master abschliessen. Anschliessend folgen ein mindestens einjähriges Praktikum und eine PrüfungExterner Link. Dauer und Art der obligatorischen Praktika sowie Inhalt der Anwaltsprüfung sind von Kanton zu Kanton unterschiedlichExterner Link.

Dank des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EUExterner Link dürfen Anwälte aus EU- und EFTA-Ländern auch in der Schweiz praktizieren. Sie müssen lediglich nachweisen, dass sie in ihrem Herkunftsland zum Anwaltsberuf berechtigt sind. Wenn sie dauerhaft in der Schweiz tätig sein wollen, müssen sie sich bei einer kantonalen Aufsichtsbehörde über die Anwältinnen und Anwälte eintragen lassen.

Weitergehende Massnahmen zur Förderung der Justizöffentlichkeit seien jedoch nicht geplant. Von der Idee, alle Urteile auf dem Internet zu publizierenExterner Link, hält er beispielsweise nicht viel: “Der Aufwand für die Anonymisierung wäre viel zu gross.” Das Obergericht publiziere aber heute schon die interessantesten Urteile.

Auf dem richtigen Weg

Ist der Tag der offenen Tür also ein Erfolgsrezept für mehr Justizöffentlichkeit? Ja und Nein. Einerseits war der Anlass ein Erfolg, weil er auf grosses Interesse stiess und das Publikum sich mit den Informationen zufrieden zeigte.

Andererseits: Die grundsätzlichen Probleme der Schweizer Justiz mit der Öffentlichkeit, wie beispielsweise die Massenabfertigung durch Strafbefehle ohne öffentliche Gerichtsverhandlung, werden mit einem Tag der offenen Tür nicht gelöst.

Immerhin scheint das Regionalgericht Emmental-Oberaargau in Sachen Justizöffentlichkeit eher zu den vorbildlichen Gerichten zu gehören. So werden beispielsweise die Verhandlungstermine im Internet sauber mit dem betroffenen Rechtsgebiet angekündigt. Wer den Kontakt mit der Bevölkerung sucht, scheint die Öffentlichkeit allgemein weniger zu fürchten.

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So läuft eine Gerichtsverhandlung in der Schweiz ab

Normalerweise ist es strikt verboten, Schweizer Gerichtsverhandlungen zu filmen. Für die fiktive Verhandlung, an der echte Anwälte, Richter, Gerichtsschreiber und eine Staatsanwältin einen erfundenen Fall verhandelten, machte das Regionalgericht Emmental-Oberaargau für swissinfo.ch eine Ausnahme. Wer detailliert erfahren möchte, wie eine Gerichtsverhandlung in der Schweiz Schritt für Schritt stattfindet, kann im Video das Prozedere von A bis Z mitverfolgen.  

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