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Erneuter Urnengang in der Jurafrage

Ausgelassene Stimmung am Gründungsfest für den Kanton Jura im September 1978 in Delémont. Keystone

Die Bewohner des Kantons Jura und des Berner Juras befinden am 24. November über den Grosskanton Jura und damit über den bedeutendsten territorialen Konflikt der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg. Unabhängig vom Ausgang ist dieses Votum ein Beweis für das Funktionieren des Schweizer Bundesstaates und der direkten Demokratie.

“Ich weiss nicht, ob die Jurafrage dieses Mal definitiv gelöst wird. Aber mit Sicherheit war der politische Prozess, der zu diesem Votum geführt hat, vorbildlich”, meint alt Ständerat Dick Marty, Präsident der Interjurassischen Versammlung.

“Er hat ermöglicht, eine Kultur des Dialogs zu leben und miteinander zu sprechen. Er hat zu einem neuen Verhältnis zwischen zwei Fronten geführt, die bisher unversöhnlich schienen.”

Die 1994 gegründete Interjurassische Versammlung scheint ihr Ziel erreicht zu haben, das heisst, einen Dialog in einem Konflikt zu ermöglichen, dessen Wurzeln auf das Jahr 1815 zurückreichen: Am Wiener Kongress wurde das Gebiet des ehemaligen Fürstbistums Basel dem Kanton Bern zugesprochen. Die französischsprachige und mehrheitlich katholische Region Jura wurde so einem mehrheitlich deutschsprachigen und protestantischen Kanton unterstellt.

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Kann eine Abstimmung den Jurakonflikt beenden?

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Moutier, an einem gewöhnlichen Dienstag im Oktober. Es ist 12:30 Uhr, die Strassen im Stadtzentrum sind fast leer. Das kühle und gräuliche Wetter lädt nicht gerade zum Flanieren ein in dieser kleinen Industriestadt mit etwas über 7000 Einwohner vor den Toren des Kantons Jura. Einzig einige Plakate künden von der kommenden Abstimmung, die einen Prozess…

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Diese Zuteilung führte zu Unzufriedenheit, aber nur selten wurde diese in der Öffentlichkeit geäussert. Erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trat dieses Gefühl einer wirtschaftlichen und kulturellen Marginalisierung in den Vordergrund.

Die Jurassier – ein wenig isoliert in ihrer hügeligen Berglandschaft – fühlten sich von ihrem Kanton in Bezug auf Infrastrukturen vernachlässigt. Dies betraf sowohl Strassen- als auch Bahnprojekte. Auch die zunehmende Germanisierung der südlichen Gebiete des Juras, wo sich vermehrt Deutschschweizer – namentlich Berner – niederliessen, führte zu einigen Spannungen.

Auf dem Weg zum Bruch

In der Nachkriegszeit entstehen so die ersten militanten separatistischen Bewegungen, darunter der “Rassemblement jurassien”, der Autonomie und Unabhängigkeit vom Kanton Bern fordert. Umgekehrt mobilisiert auch die Gegenseite, etwa die “Union des patriotes jurassiens”, die sich für einen Verbleib beim Kanton Bern einsetzt.

Die Interjurassische Versammlung wurde 1994 durch eine Vereinbarung zwischen den Kantonen Bern und Jura gegründet. Sie soll Lösungen im sogenannten Jurakonflikt (Jurafrage) erarbeiten.

Die Interjurassische Versammlung soll zudem Vorschläge für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen dem Kanton Jura und dem Berner Jura ausarbeiten. Diese Zusammenarbeit war durch die Gründung des Kantons Jura 1979 ins Stocken geraten.

In der Interjurassischen Versammlung sitzen paritätisch 12 Vertreter des Kantons Jura und ebenso viele des Kantons Bern ein. Der Präsident wird vom Bundesrat nominiert (seit 2011 alt Ständerat Dick Marty).

Die Interjurassische Versammlung sollte aufgelöst werden, sobald die Abstimmungen über die Zukunft der beim Kanton Bern verbliebenen jurassischen Bezirke beendet sind.

“Anfänglich interessierte sich nur eine gesellschaftliche Elite für die Jurafrage. Aber innerhalb von wenigen Jahren durchdrang diese Frage die ganze Gesellschaft”, sagt Bernard Voutat, Dozent am Institut für Politik und internationale Studien der Universität Lausanne.

“Jeder musste sich positionieren, was zu einer fast existentiellen Spaltung der Bevölkerung führte. Entweder war man für oder gegen den Kanton Bern.”

Die Debatte konzentrierte sich anfänglich auf die Frage, was überhaupt die Identität der Jurassier ausmachte. Fragen der Ethnie, Kultur, Sprache und Religion wurden debattiert.

“Für die Separatisten bilden die Jurassier ein echtes Volk mit einer kollektiven Identität und einer Jahrhunderte alten Geschichte. Für die Anti-Separatisten ist die Idee eines jurassischen Volkes auf Grund der geografischen, kulturellen und religiösen Verschiedenheiten eine pure Fiktion”, sagt Voutat.

In den 1960er- und 1970er-Jahren verschärft sich der Konflikt. Mit der Gründung von neuen Bewegungen auf Seiten der Separatisten (“Béliers” und “Front de libération du Jura”) sowie ihrer Gegner (“Sangliers”) kommt es zu militanten Aktionen und Gewalttaten.

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Die Befürworter einer Abspaltung vom Kanton Bern setzen Gebäude der Eidgenossenschaft in Brand, besetzen Schweizer Botschaften und bauen sogar eine Mauer am Eingang des Berner Parlaments.

Überall taucht der Slogan “Jura libre” (Freier Jura) an Hauswänden und Strassen auf. Es gibt sogar einen ersten “politischen Flüchtling” der Schweiz, der in der Franco-Diktatur Spaniens Zuflucht findet.

Recht auf Selbstbestimmung

Die Jurafrage weckt auch das Interesse ausländischer Medien. Die Situation wird mit Nordirland, dem Baskenland und Korsika verglichen.

“Im Jura kam es nicht zu Gewalttaten von einem Ausmass wie bei anderen regionalen Konflikten. Doch die Jurafrage lässt sich in die Geschichte von politischen Regionalbewegungen eingliedern, die sich gegen die Ordnung der Nationalstaaten in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhundert wehrten: Diese Bewegungen pochten im Nachgang der Entkolonialisierung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker”, meint Claude Hauser, Dozent für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg.

Nachdem der Bund die Jurafrage lange als innere Angelegenheit des Kantons Bern betrachtete, sieht er sich gegen Ende der 1960er-Jahre zum Einschreiten veranlasst. Doch es ist nicht leicht, eine Lösung zu finden. Denn die Forderungen aus dem Jura stellen die fast für heilig erklärten Grenzen aus der Zeit der Gründung des Bundesstaats von 1848 in Frage.

1815: Anlässlich des Wiener Kongresses wird der Jura dem Kanton Bern zugeteilt. Seit 1793 war dieser Teil des Fürst-Bistums Basel ein französisches Departement.

1950: Das Stimmvolk des Kantons Bern sagt Ja zu einer Verfassungsänderung. Französisch wird zweite Amtssprache, die jurassischen Bezirke erhalten zwei garantierte Sitze in der Kantonsregierung.

1974: Das jurassische Volk entscheidet sich für einen eigenen Kanton. Die drei südlichen und protestantischen Bezirke bleiben beim Kanton Bern, das Laufental wechselt zum Kanton Basel-Landschaft.

1978: Das Schweizer Stimmvolk spricht sich mit 82,3% für die Gründung eines neuen Kantons aus. Er besteht aus den drei Bezirken Delémont, Porrentruy und Franches-Montagnes und ist mehrheitlich katholisch.

1979: Der Kanton Jura wird souverän.

1994: Nach dem erneuten Aufflammen von Konflikten unterzeichnen die Kantone Jura und Bern unter der Ägide des Bundesrats die Gründung der “Interjurassischen Versammlung” (IJV), welche die Versöhnung vorantreiben soll.

2009: Am 4. Mai gibt die IJV im Beisein von Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf ihren Bericht ab, der Lösungen für die Jurafrage aufzeigt.

2010: Am 17. Dezember wird Ständerat Dick Marty vom Bundesrat zum neuen Präsidenten der IJV ernannt.

2012: Die Regierungen der Kantone Bern und Jura unterzeichnen im Februar eine Absichtserklärung, in der sie festlegen, in welcher Form Abstimmungen im Kanton Jura und im Berner Jura durchgeführt werden sollen, bei denen sich die Bevölkerung über die institutionelle Zukunft äussern kann.

2013: Am 24. November findet im Verwaltungskreis Berner Jura eine Volksabstimmung über die institutionelle Zukunft statt. Am selben Tag findet auch im Kanton Jura eine Abstimmung statt.

Traditionelle Grundsätze und historische, kulturelle und sprachliche Gleichgewichte, die als Pfeiler der modernen Schweiz gelten, geraten ins Wanken.

“Die Situation im Jura wurde in diesen Jahren zum Prüfstein für den Schweizer Föderalismus in Bezug auf die Lösung neuer Probleme. Denn der Föderalismus hatte sich mit der Zeit verkrustet. Die Jurafrage war somit wie ein Tritt in einen Ameisenhaufen. Sie nötigte die Schweiz, über sich selbst nachzudenken und nach Lösungen zu suchen”, betont Hauser.

Entspannteres Klima

Diese neuen Lösungen konkretisieren sich in den 1970er-Jahren in einer Reihe von Abstimmungen auf kommunaler, kantonaler und eidgenössischer Ebene. Aus diesem Reigen an Abstimmungen geht 1979 der Kanton Jura als 26. Kanton der Schweiz hervor.

Die drei nördlichen Bezirke haben für den neuen Kanton gestimmt, während die drei südlichen Bezirke beim Kanton Bern verbleiben wollen. Die Jurafrage ist für die Separatisten somit nur teilweise gelöst. Es bleibt ihre Forderung nach einem Grosskanton Jura.

Am 24. November werden die Jurassier nun an der Urne darüber befinden, was mit den drei südlichen Bezirken geschehen soll. Wollen sie zum Kanton Jura wechseln?

Die Abstimmung erfolgt in einem wesentlich entspannteren Klima als in den 1970er-Jahren. Dies ist auch der Arbeit der Interjurassischen Versammlung zu verdanken, die in 20 Jahren das Terrain für einen neuen Urnengang geebnet hat.

Diese Volksabstimmung wird auch im Ausland mit Interesse verfolgt: In den letzten Monaten kamen Delegationen aus dem Libanon und mehreren osteuropäischen Staaten, um mehr über den Demokratisierungsprozess in der Jurafrage zu erfahren.

“Während in vielen Ländern solche Fragen von oben entschieden werden, gibt man in der Schweiz der Bevölkerung das Wort. Das Zurückgreifen auf die Mittel der direkten Demokratie hat viele Spannungen auffangen können”, ist Dick Marty überzeugt.

Der Kanton Jura ist der 26. und jüngste Kanton der Schweiz.

Er entstand 1979 nach der eidgenössischen Volksabstimmung am 24. September 1978, als er vom Berner Jura abgetrennt wurde.

Im Kanton Jura leben rund 70’000 Menschen auf einer Fläche von 839 km2. Hauptstadt ist Delsberg (Delémont).

Testlauf für die Zukunft

Für den ehemaligen freisinnigen Tessiner Ständerat stellt das Plebiszit im Jura eine Art Testlauf für die Schweiz von morgen dar, in der die Kantonsgrenzen allenfalls neu gezeichnet werden müssen.

“Die Kantone verlieren zurzeit politisch an Bedeutung. In einem Kontext mit immer intensiveren internationalen Beziehungen werden immer mehr Entscheide auf Bundesebene gefällt. Praktisch in jeder Session werden bestimmte Zuständigkeiten von den Kantonen auf die Eidgenossenschaft übertragen”, so Marty.

“Auch für die Bürger ist die Zugehörigkeit zu einem Kanton unbedeutender geworden. Viele wohnen in einem Kanton und arbeiten in einem anderen. Ich bin überzeugt, dass es innerhalb der nächsten 10 bis 20 Jahre viele Abstimmungen geben wird, in denen es um die Fusion von Kantonen geht. Wahrscheinlich werden sieben oder acht Kantone bleiben. Dieser Prozess der Fusionen ist seit Jahren bereits auf Gemeindeebene zu verfolgen.”

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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