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Schatten der Ungleichheit

Kara Walker Nobody
Untitled, 2011 Collection of Randi Charno Levine, New York, © Kara Walker

Kara Walker stellt im Kunstmuseum Basel erstmals ihr persönliches Zeichnungsarchiv aus. Die mehr als 600 Werke illustrieren schmerzhafte Wahrheiten über die handfesten Auswirkungen von Ungleichheit.

Kara Walker ist vor allem für ihre Installationen bekannt, die aus schwarzen Scherenschnitten bestehen und groteske sowie wunderbare Bilder von Afroamerikaner:innen und der Sklavenhalter-Gesellschaft hervorzaubern. Seit Jahrzehnten setzt sie sich unermüdlich mit dem fortdauernden Erbe der Sklaverei in ihrem Land auseinander.

swissinfo.ch sprach mit der Kuratorin der Ausstellung, Anita Haldemann, wie sich das Kunstmuseum Basel mit den Themen Vielfalt und Repräsentation auseinandergesetzt hat.

Anita Haldemann
Dr. Anita Haldemann ist stv. Direktorin des Kunstmuseums Basel und Leiterin des Kupferstichkabinetts. Sie ist seit 2002 im Museum tätig. Die von ihr kuratierte Ausstellung ist noch bis zum 26. September zu sehen. Kunstmuseum Basel/Julian Salinas

swissinfo.ch: Frau Haldemann, die Ausstellung von Kara Walker ist sehr persönlich. Wie haben Sie Walker davon überzeugt, so viel von ihren bisher ungesehenen Zeichnungen preiszugeben?

Anita Haldemann: Wir sprachen darüber, als sie hierherkam. Es war wichtig, dass sie unsere Sammlung kennenlernt und die Tradition, die wir als altes Museum haben, vor allem im Kupferstichkabinett – wir konzentrieren uns darauf, auch das kleinste Stück Papier zu bewahren. Es ist ein kulturelles Archiv. Das brachte sie dazu, an ihr eigenes Archiv zu denken.

Wir boten ihrer Kunst eine seriöse Plattform und das ermutigte sie, sich zu öffnen. Das Kunstmuseum organisiert grosse Ausstellungen mit Künstler:innen wie Beuys oder Rosemarie Trockel, in denen wir 300 oder 400 Werke zeigten, um einen echten Einblick in den Geist der Künstler:innen zu geben und wie er oder sie ihre Ideen entwickeln.

Fons Americanus Walker
Fons Americanus, Turbine Hall im Tate Modern, London Getty Images

Als wir uns unterhielten wurde Kara Walker 50 Jahre alt, ein Anlass für sie, auf ihr Leben zurückzublicken. Nach ihrem Besuch in Basel begann sie wieder intensiv zu zeichnen und arbeitete an einem kleinen, intimen Format Dies, um einen Ausgleich zur Produktion von grossen Werken wie Fons Americanus für die Tate Modern zu schaffen.

Warum findet diese Ausstellung gerade jetzt statt?

Ich habe mich schon vor 10 Jahren für Walkers Arbeit interessiert, aber damals hatten wir noch nicht das neue Gebäude und die Infrastruktur für ihre Kunst. Und der Zeitpunkt ist richtig: Jetzt ist sie Teil einer Entwicklung in unseren Ausstellungen, wir haben Sam GilliamExterner Link und Theaster Gates gezeigt, wir haben begonnen, uns einer vielfältigeren Art von amerikanischer Kunst zuzuwenden, nicht nur der weissen männlichen.

In Ihrem Katalog-Essay schreiben Sie, dass “die Zeichnung besonders intensiv von Künstlern genutzt wurde, die sich mit Fragen der Identität und der Machtverhältnisse beschäftigen”. Warum ist das so?

Weil es das Medium ist, in dem man Ideen entwickeln oder ausprobieren kann. In einer Zeichnung kann man alles machen. Normalerweise ist eine Zeichnung Teil einer Sequenz oder eher eines Prozesses, bei dem man sieht, wie Künstler:innen denken und wie Ideen zum Leben erwachen. Das ist es, was Kara zu sich selbst sagte: Dass jedes Stück Papier ein Ort der Reflexion ist.
 

Kara Walker übt Kritik an der Präsentation schwarzer Künstler:innen und an den Erwartungen, wie sie sich in einem Museumskontext verhalten sollten. Auf einer Zeichnung schreibt sie zum Beispiel: “Tate liverpool [sic] is pleased to announce 10 ways to annoy a negress”. Was sie die “weisse Kunstwelt” nennt, ist Teil der Untersuchung der Künstlerin. Welche Herausforderungen gab es für Sie bei der Realisierung dieser Ausstellung?

Wir wollten, dass sie sich bei ihrer Darstellung wohl fühlt, da sie sich nicht gerne exponiert. Wir haben versucht, ihr Raum zu geben, in dem sie in Ruhe arbeiten kann. Wie bei allen Künstler:innen zeigten wir ihr alle Texte und die Auswahl der Bilder [die zur Vermittlung der Ausstellung verwendet wurden]. Aber wir hatten interessante Diskussionen, zum Beispiel über die Verwendung von Black vs. African American. Sie fühlte sich ernst genommen und hatte das Gefühl, dass es uns wichtig war, wie wir mit ihrer Kunst umgehen.

Es besteht die Gefahr, dass das Schweizer Publikum die Ausstellung mit einem Gefühl des Nichtbetroffenseins besucht. Mehrere Werke enthalten deutsche Medienausschnitte. Es gibt auch eine Zeichnung eines abgemagerten Mädchens mit dem Text “wenigger and wenniger” (explizites Wortspiel mit “weniger” und “nigger”), was sehr stark ist, da man diese deutsche Resonanz nicht erwartet. Haben Sie mit Kara Walker über den Basler Kontext gesprochen?

Das haben wir, denn ich hatte Angst, dass die Leute denken würden: “Oh, das ist ein amerikanisches Thema, das ist interessant, aber es betrifft uns nicht.” Ich war wirklich froh, diese deutschen Stücke in ihrem Archiv zu sehen. Ich glaube, es war interessant für sie, wieder in einen deutschen Kontext zu kommen, aber nicht in Deutschland.

Kara Walker
Kara Walker in ihrem Studio. © Ari Marcopoulos

Sie hatte auch Zweifel, ob sich alle mit dem Thema beschäftigen würden. Aber die Black-Lives-Matter-Proteste im letzten Jahr und die jüngsten Ereignisse wie das Gedenken an die Geschichte von Tulsa waren in den Medien sehr präsent. Nun ist das Schweizer Publikum besser informiert als vor der Pandemie. Es geht nicht nur um die Sklaverei und die Geschichte, sondern um das Heute und den Umgang mit einer einseitig erzählten Geschichte.

Gleichzeitig wollten wir nicht, dass es eine rein didaktische Ausstellung wird. Wir hätten auch die Geschichte der Vereinigten Staaten, den Bürgerkrieg und die Bürgerrechtsbewegung zeigen können, aber dazu müsste man so viel erklären. Wir haben versucht, uns auf Führungen und Workshops zu konzentrieren, damit alle, die es wissen wollen, die Informationen bekommen können.

In einer kürzlich erschienenen WOZ-KritikExterner Link wurden die Rahmung und Vermittlung der Ausstellung kritisiert und bemängelt, dass zum Beispiel die Konstruktion von Rasse nicht thematisiert wurde. Wo haben Sie mit der Vermittlungsarbeit begonnen?

Wir haben zum Beispiel mit Studierenden der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK im Bereich der Vermittlung gearbeitet und sie führen spezielle Führungen und Workshops zu diesem Thema durch. Aber es ist eine Herausforderung; ich bin sicher, dass nicht alle Schweizerinnen und Schweizer mit der amerikanischen Geschichte vertraut sind. Kara Walker selbst sagt, man müsse nicht immer alles im Detail studieren, um eine Zeichnung zu verstehen.

Kara Walker Basel
Mehr als 600 Werke von Kara Walker werden im Kunstmuseum Basel ausgestellt. Kunstmuseum Basel/Julian Salinas

Kara Walkers Arbeiten zeigen in der Regel den Standpunkt eines Individuums. Die Spannung zwischen dem Individuum und den grösseren Strukturen ist faszinierend. Welche Rolle kann ein Museum bei der Auseinandersetzung mit Fragen wie Rassismus oder Ungleichheit spielen?

Wir thematisieren das in unseren Ausstellungen, aber das hier hat wirklich einen Prozess des Nachdenkens in Gang gesetzt. Letztes Jahr, noch vor der Eröffnung, haben wir einen Anti-Rassismus-Workshop für das Museumsteam veranstaltet. Es war wichtig, die Diskussion innerhalb des Museums zu beginnen. Wir nehmen auch an einem Programm des Kantons Basel-Stadt mit dem Literaturhaus und anderen Institutionen teil, in dem wir über die Diversifizierung unserer Aktivitäten nach innen und aussen diskutieren.

Bei der Diversifizierung geht es nicht nur um Rassismus, wir haben versucht, andere Perspektiven einzubeziehen. Zum Beispiel habe ich Künstler:innen wie Leiko Ikemura gezeigt, die eine japanisch-schweizerische Künstlerin ist, oder Rozà El-Hassan, eine ungarisch-syrische Künstlerin, die sowohl einen muslimischen als auch einen christlichen Hintergrund hat. Wir versuchen, in verschiedenen Bereichen zu diversifizieren; wir haben eine ganze Abteilung und einen Kurator [Daniel Kurjakovic] für Programmgestaltung und Bildung, mit Aktivitäten, die in verschiedene Richtungen gehen.

Dieses Jahr ist das Kunstmuseum Basel führend bei Ausstellungen von Künstlerinnen. Wird sich dies in den kommenden Jahren fortsetzen?

Ja, auf jeden Fall. Diese Strategie verfolgen wir schon seit einiger Zeit und haben sie in den letzten fünf Jahren noch intensiviert. Wir haben einen starken Fokus auf Frauen, nicht nur in den Ausstellungen, sondern auch in der Sammlung. Das ist langfristig noch wichtiger.

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Traditionelle Museen stehen vor der grossen Herausforderung, ihre Sammlungen im Hinblick auf das Ungleichgewicht der Geschlechter zu überprüfen. Hat sich die Ankaufspolitik des Kunstmuseums Basel in den letzten Jahren weiterentwickelt?

Das hat sie definitiv. Vor allem in der zeitgenössischen Kunst, wo es einfacher ist; es gibt keine Ausrede, keine guten Künstlerinnen zu finden. Wir haben es möglich gemacht, Werke von Kara Walker zu kaufen, aber wir versuchen auch, zurückzublicken und zumindest in einigen Bereichen mehr Frauen zu berücksichtigen. Wir haben damit begonnen, Sari Dienes oder Shirley Jaffe zu erwerben, die wiederentdeckt wurde und demnächst eine wichtige Retrospektivausstellung haben wird. Bei einigen Künstlerinnen wie Lee Krasner oder Helen Frankenthaler ist es wirklich schwierig – die Preise sind so hoch, dass es schwer ist, rückwärts zu sammeln. Aber es gibt immer noch interessante Positionen, auf die wir versuchen, uns zu konzentrieren.

Gibt es Quoten in der Akquisitionspolitik?

Es gibt keine spezifischen Quoten, da es neben dem Geschlecht noch andere Kriterien gibt, etwa Vielfalt im geografischen oder kulturellen Sinne. Wir wollen uns intensiv mit dieser Perspektive auseinandersetzen, und dieser Prozess wird eine nachhaltigere Wirkung haben als das blosse Befolgen von Zahlen.

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