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Kein Aussenhandel ohne Emotionen

Marie-Gabrielle Ineichen folgt als Seco-Chefin auf Jean-Daniel Gerber. swissinfo.ch

Rückgrat der Exporte sind weiterhin die KMU. Jährlich widmet ihnen der Exportförderer OSEC ein Aussenwirtschafts-Forum. Am Diesjährigen trat erstmals Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch öffentlich auf, die neue Chefin des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO).

Mit 0,1 Prozent der Weltbevölkerung produziert die Schweiz 1,4 Prozent aller Welt-Exporte. Daran haben die Schweizer KMU einen grossen Anteil, weil sie stark internationalisiert sind.

Grund für diese Exportintensität ist der beschränkte Binnenmarkt, aber auch der Umstand, dass Schweizer Produkte weltweit gefragt sind. Dazu braucht es gute Rahmenbedingungen. Genau darum kümmert sich das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco).

Seit April steht das Seco unter Führung von Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch.

swissinfo.ch: Was sind Ihre Prioritäten?

Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch: Das Seco hat eine breite Palette von Aufgaben. Nach der Wirtschaftskrise werden wir prioritär die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft im Ausland weiter verbessern. Dazu gehören bessere Marktzugänge sowie der Ausbau des Netzes der Freihandels-Abkommen.

Prioritär wird auch das Verhältnis zu Europa sein. Mitten in Europa gelegen, müssen wir unsere Beziehungen zu den Nachbarn pflegen und diejenigen zur EU weiterentwickeln. Zudem müssen wir die Probleme mit Italien lösen. Mit der Lösung des Problems im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens wurde immerhin ein erster Schritt gemacht, aber weitere müssen folgen.

Energiefragen werden uns in den nächsten Jahren sicher auch beschäftigen, besonders jetzt, nach der Katastrophe in Japan.

swissinfo.ch: Das tönt ziemlich sachlich. Kommen in der Aussenwirtschaft nicht auch Emotionen zum Vorschein?

M.-G. I.F.: Und wie! Gerade dieser Osec-Anlass hat dies gezeigt. Ohne Emotionen könnten sich die KMU als eigentliches Rückgrat der Exportindustrie gar nicht richtig in ihre ausländischen Märkte einfühlen.

Mit Leidenschaft habe auch ich selbst stets die Schweiz an Verhandlungen vertreten. Die Vorstellung, dass sich auch über Zölle leidenschaftlich verhandeln lässt, mag schwierig sein. Aber ob dies nun eine Zolländerung über geschnittene Tomaten oder ungeröstete Erdnüsse betrifft, tiefere Zölle können sich sehr direkt auf die Konkurrenzfähigkeit von Schweizer Unternehmen auswirken. Die Materie ist also alles andere als trocken. Und so engagiert wie ich zuvor verhandelt habe, möchte ich nun auch das Seco führen.

swissinfo.ch: Emotionsbeladen waren auch die beiden vergangenen Finanzkrisen-Jahre. Deren Auswirkungen mussten gemildert werden. Was kommt als nächstes?

M.-G. I.F.: Der Bundesrat und das Parlament haben 2008 und 2009 innert weniger Monate verschiedene konjunkturelle Stabilisierungsmassnahmen beschlossen. Ab 2009 wurden sie umgesetzt und laufen Ende 2011 aus. Dazu gehören auch Exportförderungsmassnahmen, die durch die Osec umgesetzt worden sind. Unter anderem auch dank dieser diversen Massnahmen setzte Mitte 2010 eine substanzielle Erholung der Schweizer Wirtschaft ein. Zurzeit gehen die Experten des Bundes von einem BIP-Wachstum von zirka 2,1% für 2011 aus, was ich als gut einstufe.

Eine neue Herausforderung wird für uns die Veränderung der Weltwirtschaft sein. Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise haben sich die globalen wirtschaftspolitischen Gewichte verschoben.

Die Schwellenländer haben sich schneller und besser erholt als die Industrieländer. Sie sind dank dieser Entwicklungen auch viel selbstbewusster geworden. Entsprechend wollen sie nun in der WTO, im Währungsfonds und natürlich im Rahmen der G20 als gleichberechtigte Partner mitreden.

swissinfo.ch: Irritiert Sie das?

M.-G. I.F.: Nein, das ist verständlich. Die Welt ist nicht mehr bipolar. Doch manchmal bin ich schon ein wenig erstaunt. Wenn sie solche Rechte geltend machen, gehören auch die Pflichten dazu. Und da sind diese Länder noch gar zögerlich.

Wenn sie zum Beispiel ihre Märkte im Rahmen der neuen WTO-Runde etwas mehr öffnen würden, wäre die heutige Verhandlungssituation um einiges besser.

swissinfo.ch: Wie muss sich die Schweiz in diesem neuen Umfeld positionieren?

M.-G. I.F.: Schauen Sie sich die Weltkarte an, welche die OECD anlässlich ihres 50-jährigen Bestehens 2011 in ihr Logo integriert hat. Für Viele dürfte sie gar nicht wie eine Weltkarte aussehen, weil die Welt aus einem ganz anderen Blickwinkel abgebildet ist.

Der Pazifik liegt dabei in der Mitte, links Asien, rechts Nord- und Südamerika. Und ganz links in der Ecke befindet sich ein kleiner Fleck, Europa! Doch das ist die Welt, wie sie viele Länder heute sehen und in dieser Welt muss sich die Schweiz nun positionieren. Das braucht viel Engagement, denn wir wollen uns eben gerade nicht derart in die Ecke drängen lassen.

swissinfo.ch: Wie sehen Sie die Entwicklungen im EU-Umfeld?

M.-G. I.F.: Probleme gibt es mit der Euro-Zone. Gerade hat sich Portugal unter den Schutzschirm gestellt. Der aufgewertete Franken bereitet einem Teil der Schweizer Exportwirtschaft Probleme, obschon eine starke Währung grundsätzlich als Zeichen einer starken Wirtschaft zu deuten ist. Wir sind also die Opfer unseres eigenen Erfolges geworden.

swissinfo.ch: Was steht in der Schweiz selbst noch an?

M.-G. I.F.: 2011 ist ein wichtiges Jahr, weil das Parlament die Finanzierung der Exportförderung und der Standortpromotion festlegen wird. Eine entsprechende Botschaft wird in der Sommer- und Herbstsession vom Parlament beraten werden. Wir stellen fest, dass die Nachfrage nach Dienstleistungen der Osec seitens der Wirtschaft in den letzten Jahren zugenommen hat.

An den KMU liegt es dann, noch innovativer und spezieller als ihre Konkurrenz aufzutreten und ihre Märkte weiter zu diversifizieren. Wir vom Seco haben für künftige Freihandels-Abkommen einige Weltregionen speziell im Visier, insbesondere Asien.

Diese Verhandlungen sind allerdings nicht immer einfach. Zum Beispiel dann nicht, wenn mir der indische Unterhändler sagt, dass sein Land 1,2 Milliarden Menschen umfasst und die EFTA (in der die Schweiz Mitglied ist) nur knapp 12 Millionen – wie soll man bei diesen Relationen zu einem ausgewogenen Abkommen gelangen? Dazu braucht es Qualität, Nischen und Besonderheiten, die ausser uns niemand anbieten kann.

swissinfo.ch: Das wäre der bilaterale Teil Ihrer Politik. Wie sieht es im multilateralen Teil aus, in der Welthandels-Organisation?

M.-G. I.F.: Die grossen Handelsländer sind sich noch immer nicht einig, was sie eigentlich anpeilen wollen. Nachdem ich 15 Jahre mitverhandelt habe, muss ich leider feststellen, dass es schlecht aussieht mit der Doha-Runde. Aber ich bin eine irrationale, ewige Optimistin und hoffe dennoch auf einen Durchbruch in irgendeiner Form. Die WTO-Runde ist nämlich insbesondere auch für viele Entwicklungsländer sehr wichtig.

Mit den Ungewissheiten im multilateralen Bereich gewinnt unsere bilaterale Politik der Freihandels-Abkommen zusätzlich an Gewicht. Wir verfügen bereits über 24 solche Verträge mit 33 Ländern ausserhalb der EU. Letzten Januar haben wir die Verhandlungen mit China am WEF in Davos beschlossen. Zurzeit befindet sich eine chinesische Delegation in Bern.

Verhandelt wird auch mit Indien, Indonesien und der Zollunion von Russland, Kasachstan und Weissrussland. Auch mit Brasilien und anderen Ländern in Asien und Lateinamerika bestehen bereits Kontakte.

swissinfo.ch: Verhandelt Brasilien nicht gerade mit der EU über einen Freihandels-Vertrag?

M.-G. I.F.: Ja, und wir werden genau verfolgen, was dieses Land mit der EU aushandelt. Früher galt bei uns die Verhandlungspolitik “one step behind”. Das heisst, die Schweiz schloss ihre Abkommen mit einem Partnerland erst ab, nachdem die EU bereits eines abgeschlossen hatte.

Seit einigen Jahren verhandeln wir immer mehr “one step ahead”. Damit setzt sich die Schweiz in eine Pole Position, so dass sich Schweizer Exporteure früher auf diesen Märkten etablieren können, als ihre Konkurrenz aus der EU oder den USA. Das Freihandelsabkommen mit Korea ist so ein Beispiel.

Je nach Situation ist auch heute noch die “One step ahead”-Strategie gut, denn die EU oder die USA bringen natürlich mehr Gewicht mit ein als die kleine Schweiz. Manchmal holen sie deshalb mehr heraus als wir es vermocht hätten. Im Nachhinein versuchen wir dann, unsere Abkommen entsprechend nachzubessern, um nicht diskriminiert zu werden.

Seit 1. April 2011 ist Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch Direktorin des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) und folgt auf Jean-Daniel Gerber nach.

Familienmässig italienischer und französischer Muttersprache, schloss sie 1987 ihr Rechtsstudium in Bern als Fürsprecherin ab, war nachher bei McKinsey tätig, machte in Fontainebleau am Insead ein MBA und trat 1990 in das Bundesamt für Aussenwirtschaft (Bawi) ein.

Nachdem sie den damaligen Staatssekretär Franz Blankart, schon zu Beginn ihrer Tätigkeit im Bawi internationalen Verhandlungen begleiten durfte, gefiel es ihr derart, dass sie sich dachte: “An so einem Ort möchte ich bleiben”.

Ab 2007 war sie Botschafterin und Delegierte des Bundesrates für Handelsverträge, sie war Chefunterhändlerin der Schweiz bei der Welthandels-Organisation WTO, Mitglied der Seco-Geschäftsleitung, und als Leiterin des Bereichs Welthandel in der Direktion für Aussenwirtschaft zuständig für die Freihandelsabkommen.

Sie könne sich im Seco auf 640 Mitarbeitende und auf eine hervorragende Geschäftsleitung stützen – ohne sie hätte sie diese Aufgabe gar nicht übernommen.

Das Osec-Forum der Schweizer Aussenwirtschaft 2011 fand letzte Woche in Zürich statt.

Zum Thema “Neuland – Chancenland” wurde Unkonventionelles vorgestellt. Vordenker und Bestseller-Autoren wie Kjell Nordström oder Peter Kreuz zeigten andere Denkweisen und (Export-)Methoden auf.

Jean-Claude Biver, treibende Kraft hinter der Uhrenmarke Hublot, illustrierte den konkreten Fall seines Unternehmens.

Unter anderen zeigten der innovative Kafferöster Daniel Badilatti, der Datencenter-Spezialist Mathias-Ulrich Koch, der Drahtseilpionier Peter Jakob oder der Fahrzeugsortungs-Spezialist Daniel Thommen, wie sie zum Exportieren kamen, was funktionierte und was schief ging.

Pro Kopf gehört die Schweiz zu den fünf grössten Exportnationen der Welt, die blossen Rohstoff-Exporteure inbegriffen.

Die Osec unterstützt Unternehmen beim Auf- und Ausbau ihrer Auslandaktivitäten und ermöglicht so eine schlagkräftige Förderung der Aussenwirtschaft.

Sie bündelt auch die Leistungsaufträge der Export-, Import- und Investitionsförderung sowie der Standortpromotion unter einem gemeinsamen Dach.

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